Frank Witzel

Was Gott auseinanderführt, soll der Mensch nicht zusammenhalten.

Die Kraft der Individuation im Horizont der Liebe

Theologie für Zweifler, Sucher, kirchlich Distanzierte und andere gute Christen

 

Hinweis

Es wird auf ein Copyright verzichtet. Wir wünschen den Gedanken, die im Buch (s.o.) „schwarz auf weiß“ zu Papier gebracht wurden, Verbreitung. Die digitale Fassung hier im Internet ist nicht verbindlich. Sie entspricht auch nicht immer dem Original-Text des Buches.

 

Widmung und Dank

an die Frau an meiner Seite, die ich liebe. Danke für den geteilten Himmel im Hier und Jetzt!

an alle, die ich nach Beziehungsabbrüchen begleiten durfte. Danke für den Vertrauensvorschuss und den Verzicht, trotz mancher Ankündigungen der Verlassenen, aus diesem Leben vorzeitig zu gehen!

an meine Kinder, die trotz Trennungserfahrung prima im Leben stehen und einfach klasse sind.

an Johanna Fischer, dem Sinn-Engel des Frankl-Forums Augsburg, für Inspiration und Kooperation.                                                                                                                       

 

Inhalt

Das Neue

            Einführung         

            Das Jahr 1962

            Trennung und Scheidung: Krise als Normalfall

            Krise als Chance

Große Namen

            Einführung

            Gott, Adam, Eva

            Rut und patriarchale Patriarchen

            Jesus und Paulus

Große Worte

            Einführung

            Lernen

                        Individuelles Lernen

                        Kulturelles Lernen

                        Liebe und Gott

            Verlieben und Bleiben

            Radikalität und Liebe

            „Ja“

            Treue

             Freiheit

            Schuld

             Endlichkeit

            Sünde

            Werden

            Wirklichkeit

                        Kinder

                        Eltern

                        Gewalt

                        Bedrohungen

 

Weiter gehen

            Mut

            Und jetzt?

Nachwort

 

Das Neue

Einführung

Der Sekundenzeiger will uns davon überzeugen, dass die Zeit immer ganz gleich und kontinuierlich vergeht. Wir glauben ihm aber nicht. Die Zeit fließt chronologisch, vielleicht stetig, im wirklichen Leben aber höchst unterschiedlich. Der Sekundentakt ist nicht der Rhythmus des Lebens. Das Leben pulsiert. Es hat Takt, Wellen, Dichte und Langeweile, Leere und den „Kairos“, die gefüllte Zeit, in der Gottes Gegenwart in neuer Weise erfahrbar ist und herausfordert zum Eigentlichen und Wesentlichen.

Nicht alles ist gleich. Es gibt Achsen-, Übergangs- und Wendezeiten.

 

Das Jahr 1962

soll zeichenhaft für die Zeit des Übergangs stehen, in der die Liebe aus dem Reich der Notwendigkeiten in das Reich der Freiheit geschritten ist.

Von dieser Zeit an musste man nicht mehr zusammen sein und sich lieben, um überleben zu können. Partnerschaft war von da an kein Überlebensprojekt mehr. Jede und jeder ist seitdem wirklich frei, zu entscheiden ob, wie und insbesondere in welcher Form Liebe und Partnerschaft gelebt werden will.

Dieses Jahr ist besonders, denn in ihm

wird das Zweite Vatikanische Konzil einberufen. Die katholische Kirche begiebt sich auf einen Reformweg, der klar ein Vorher und ein Nachher beschreibt. Trotz restaurativer Tendenzen in den nachfolgenden Jahrzehnten, die die Zusammengehörigkeit von Erstem und Zweitem Vatikanischen Konzil im Sinne der Unfehlbarkeit des katholischen Lehramts betonen, öffnet sich die römisch-katholische Kirche den Gegenwartsfragen. Ab dem Zweiten Vatikanischen Konzil dürfen Katholiken sowohl in der Kirche als auch in einer mündigen Welt zu Hause sein. Dies bedeutet für einen nicht geringen Teil der Weltbevölkerung einen erheblichen Freiheitsgewinn.

Unbeabsichtigt passend dazu veröffentlicht Bob Dylan in diesem Jahr sein Album „The Freewheelin’“. Ihm gelingt damit der musikalische Durchbruch in den Vereinigten Staaten. Ein Jahr später macht er es ganz deutlich mit „The Times They are A-Changing“. Und die Gitarren-Liederbücher der Jugendarbeit aller Kirchen füllen sich auch mit seinen Liedern. Seine Impulse sind nicht umsonst, sind nicht „Blowin’ in the Wind“. Der Erfinder des Folk-Rocks auf dem legendären Newport Folk Festivals von 1965, auf dem er seine Gitarre erstmals elektrisch verstärkt, ist auch ein heiliger Patron der Individuation. Er macht in seinen vielen Metamorphosen, im steten Suchen und gelegentlichem Finden, in seiner Musik und seinem privaten Leben vor, was Individuation bedeuten kann. Mit dem Album „Slow Train Coming“ erzählt er dann ab 1979 von der Versöhnung von Suchen, Finden und christlichem Glauben.

Zwei Jahre vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums und dem Durchbruch von Bob Dylan als modernem Shakespeare der Musik wurde 1960 die Anti-Baby-Pille, die „Pille“, in den Vereinigten Staaten zugelassen.1961 wurde sie auch in der Bundesrepublik eingeführt. Sex wurde befreit von den Konsequenzen von Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Kinderaufzucht. Das „Reich der Freiheit“ ist seither auch in erotischer Hinsicht denk-, fühl- und lebbar, weil es Sexualität von Fruchtbarkeit getrennt hat.  

Es gibt seither definitiv ein Vorher und ein Nachher. Nach dieser Zäsur fehlten allerdings eine Art kultureller Kompetenz und ein persönliches ethisches Orientierungswissen darüber, wie mit diesem Freiheitsgewinn gut umgegangen werden könnte. Dies begründet den beginnenden Boom an Aufklärungs- und Beratungsliteratur. Meinte es der kalifornische Psychiater David Reuben 1969 mit seinem Buch „Everthing You Always Wanted to Know About Sex (But Were Afraid to Ask)” und anderen Aufklärungsbüchern noch ernst und pädagogisch, so parodierte Woody Allen dies bereits 1972 in genialer, komischer und sehr menschlicher Weise in seinem gleichnamigen Filmklassiker „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nicht zu fragen wagten“ und war damit dann auch aus deutschen Kinos nicht mehr wegzudenken.

1962 wurden die Rollings Stones gegründet. Später werden sie singen „I can get no satisfaction“. Sie haben die Freiheit, erotische Lust und Sehnsucht musikalisch und existenziell mit dem Hunger nach Leben und Erlebnis verbunden. Und die Cover-Bands und Freizeit-Rocker nach ihnen tun es auch.

Die Beatles nahmen ihre erste Single mit dem Titel „Love me do“ auf. Die Verbindung von Freiheit, Sehnsucht, Erotik und Show-Business versetzte Frauen in der Folgezeit auf Beatles-Konzerten in Hysterie und Ohnmacht.

Für die biederen Familien sang Conny Froboess „Zwei kleine Italiener“ und verband die Erfahrung, dass Gastarbeiter in das ehemalige Nazi-Deutschland kamen, mit dem Gefühl der Sehnsucht und einem realen Freiheitsgewinn. Man entdeckte Italien als Urlaubsland und konnte zum Land der Sehnsucht nach Sonne, Strand und Meer fahren. Ein neues Lebensgefühl machte sich breit.

1962 erschien das 1950 geschriebene Lied „Turn, Turn, Turn“ von Pete Seeger. Er vertonte dabei den biblischen Text aus dem dritten Kapitel des Predigerbuches „Alles hat seine Zeit“ und den Gedanken an einen ständigen Wandel. Die Version der Musikgruppe „The Byrds“ landete 1965 einen ultimativen Hit und blieb drei Wochen lang auf Platz eins in den US-Charts. So viel Wandel in der Luft!

Ab 1962 erscheint die deutsche Satirezeitschrift “pardon“. Satire und Kritik probieren es aus, was es heißt, frei zu denken, zu reden , zu schreiben. Da steckte von Anfang an Energie drin, weil am Horizont die Möglichkeit des befreiten Lebens aufleuchtete.

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis aus der geahnten Möglichkeit ausprobierte Wirklichkeit wurde. In dieser gärenden und sich zu bewegen beginnenden Zeit bahnte sich eine neue Phase des Lernens in Liebes- und Beziehungsdingen für die gesamte Kulturgeschichte an.

Die viel zitierte 68er-Generation machte sich daran, diese neue Zeit nicht nur zu bedenken, sondern sie auch gesellschaftlich nachhaltig auszuprobieren. Ihre Versuche, ein kulturelles Lernen zu verwirklichen, machten zwar aus heutiger Sicht noch einen pubertären Eindruck - dennoch, auch aus heutiger Sicht verdienen sie das Etikett „Paradigmenwechsel“ und „kulturelle Revolution“.

Manches war schrecklich unfertig: Auf der einen Seite sang eine Kultband dieser Zeit: „Ich liege nicht über dir. Ich liege nicht unter dir. Ich liege neben dir.“ Auf der anderen Seite wurde patriarchales Machotum mit der Forderung nach freier Liebe kombiniert. Doch Frauen hatten dabei meist (noch) keine eigene Stimme.

Ab den 60er Jahren war die Verbindung von Freiheit und Liebe auf der Agenda.

Auch in ihren Untiefen! Leider wurde dabei selbst sexueller Kindesmissbrauch von dieser gesellschaftlichen Avantgarde offen propagiert und noch häufiger von den konservativen Kräften heimlich praktiziert. Heute dürfte allen klar sein, dass pädophile Praktiken und die Anstiftung zu solchen ein Verbrechen darstellen.

Doch trotz aller Verwerfungen der 68er-Zeit bleibt für alle nachfolgenden Generationen im Hinblick auf das kulturelle Lernen festzuhalten, dass sich in der Nachkriegsära folgende gesellschaftliche Errungenschaften miteinander verbunden haben:

  • Mit der Erfindung und allgemeinen Einführung der Anti-Baby-Pille war ein epochaler Schritt für die Menschheit vollzogen, dass nämlich Sexualität ohne Fortpflanzung gedacht und gelebt werden kann. Bei nüchterner Betrachtung ein ungeheurer Freiheitsgewinn, weil erotische Beziehungen aus dem Reich der Notwendigkeit, sich um potentiellen Nachwuchs und deren Aufwachsen kümmern zu müssen, heraustreten konnten.
  • Mit dem Aufbau eines Sozialstaates entfiel die Notwendigkeit, Partnerschaft als individuelle Überlebensgemeinschaft gestalten zu müssen. Auch Einzelpersonen konnten als solche in und durch die solidarisch sich verhaltende Gesellschaft überleben.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach den Erfahrungen von Flucht und Vertreibung und letztlich nach geglücktem Wiederaufbau der Industriestandorte in Mitteleuropa setzte eine Wohlstandsentwicklung ein, die zumindest in Europa und der nördlichen Erdhalbkugel genügend Freiräume schaffte für individuelle Lebensentfaltungen breiter Bevölkerungsschichten. Der Überlebenskampf war gewonnen. Freiheit konnte auf dem Boden relativer materieller Sicherheit ausprobiert und gelebt werden. Dies betrifft natürlich auch die Freiheit, Liebesbeziehungen ohne Rücksicht auf Notwendigkeiten des individuellen Überlebens zu gestalten.
  • Der Aufbau einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft nach der faschistischen Schreckensherrschaft im Herzen Europas verschaffte den Bürgern und Bürgerinnen Rechtssicherheit. Sie wiederum war der Boden, auf dem liberale Lebensentwürfe ohne Gefahr für einzelne Personen verwirklicht werden konnten.
  • Bildung verschaffte geistige Autonomie.
  • Die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau, befreite die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung von juristisch sanktionierter Bevormundung. Auch wenn die faktische Gleichstellung von Frauen und Männern in der Gegenwart noch eine bleibende Aufgabe ist, stellt es ein menschheitsgeschichtliches Grunddatum und einen epochalen Paradigmenwechsel dar, dass die Weimarer Reichsverfassung von 1918 das Frauenwahlrecht festhielt und ein Jahr später die ersten weiblichen Abgeordneten in das Parlament der Weimarer Republik gewählt wurden. Daran anknüpfend hält das Grundgesetz von 1948 nach der Nazi-Diktatur in Artikel 3, Absatz 2 fest „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Es dauerte dann noch bis 1958, bis dieser Grundgesetz-Artikel juristisch bindend in bürgerliches Recht umgesetzt wurde. Noch länger brauchte es, bis Frauen ohne Zustimmung des Ehemanns eine Erwerbstätigkeit aufnehmen konnten. Dies alles zeigt deutlich die Brisanz dieser fünf Worte auf. Letztendlich verwandelte diese Brisanz sich in Kraft zur Freiheit für alle(!) Menschen in aufgeklärten modernen Zivilgesellschaften.
  • Die aufklärerische Institutionenkritik ermöglichte es unkonventionell lebenden Menschen zunehmend, individuelle Lebensentwürfe ohne moralische Bevormundung, etwa durch die Kirchen, ausprobieren zu können.
  • Das zu erwartende durchschnittliche Lebensalter der Menschen nahm zu. Dadurch kommen noch ganz andere Lebensphasen in den Blick, die überhaupt nichts mehr mit Kinderzeugung und Fürsorge für den Nachwuchs zu tun haben.

Kurz: Die Liebe mit ihren jeweiligen Lebensformen trat ab den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus dem Reich der Notwendigkeiten in das Reich der Freiheit.

Das, wonach sich alle Generationen unseres Kulturkreises, vielleicht auch der gesamten Menschheitsfamilie, gesehnt hatten und was sie  in ihren poetischen und religiösen Fantasien vorweg genommen hatten, wurde nun lebbare Wirklichkeit: Die Vermählung von Freiheit und Liebe.

Welchen Grund der Bindung sollte es noch geben, nachdem die oben geschilderten Freiheitsräume eröffnet wurden? Nur den einen: Die Bindung wird gewollt. In aller Freiheit.

Liebe und Partnerschaft begründen nun eine echte Lebensgemeinschaft. Sie muss nicht mehr Überlebensgemeinschaft sein.

Dies ist menschheitsgeschichtlich eine vollkommen neue Situation: Was in vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden allerhöchstens einer absolut privilegierten Oberschicht möglich war, kann nun Lebenswirklichkeit aller sein: Lieben in Freiheit.

Diese menschheits- und kulturgeschichtliche Neuerung bedeutet allerdings auch, dass hierfür noch kein breites kulturelles Lernen stattfinden konnte. Darum suchen wir und lernen wir in allen angenehmen und unangenehmen Lernprozessen. Nicht zuletzt ist die Flut der Beratungs- und Beziehungsliteratur ein Indiz dafür. Ein Kompetenz-Reservoir für gelingende Beziehungsgestaltung für das Menschheitsprojekt „Lieben in Freiheit“ ist sie aber nicht. Letztlich handelt es sich hier um eine kollektive und offene Dokumentation der Lernerfahrungen durch “Versuch und Irrtum“. Und das ist auch gut so. Wir sind mitten im Prozess. Dass unsere Kinder uns als Eltern oft peinlich finden in unseren Suchbewegungen, wir sie hingegen oft als verstörend spießig und angepasst empfinden, ist auch in Ordnung. Wir sind letztlich Teile einer großen Lerngemeinschaft, nur eben an verschiedenen Orten des kulturellen Lernens. Die Chancen stehen dabei gut, dass wir insgesamt hilfreiche Fortschritte machen. Geduld ist dabei angebracht, denn immerhin geht es um ein lang ersehntes Menschheitsprojekt: Liebe, die die Grenze überschreitet aus dem Reich der Notwendigkeiten hinein in das Reich der Freiheit. Vor dem Einzug in „das gelobte Land“ steht die Wanderung durch die Wüste. Manche müssen wie Mose vor dem Übergang über den Jordan sterben und können „das Land, in dem Milch und Honig fließt“ nur von Ferne erblicken. So ist es mit dem Leben und den Wegen. Trotzdem ist es gut.

Und dann lehrt uns die biblische Geschichte auch die Demut, die damit rechnet, dass es auch im „gelobten Land“ genügend Probleme geben wird. Neben dem Lachen werden auch Tränen sein. Leider wird auch dieses Land hin und wieder schlimme Erfahrungen des Leids für uns Menschen bereit halten. So ist das. Aber wenn wir dieses Land betreten haben, werden wir nicht gern zurück gehen wollen – aus guten Gründen.

 

Trennung und Scheidung: Krise als Normalfall

Manche Beobachtungen stören und verstören. Gut so! Denn jede Desillusionierung ist auch eine Befreiung von Illusionen.

Es könnte sein, dass die Verheißung der monogamen, lebenslangen, einmaligen Beziehung eher Traum als Wirklichkeit im Leben der gegenwärtigen Menschen ist. Illusion eben.

Folgendes stimmt zumindest bedenklich:

·        Mittlerweile werden ca. 30 bis 50 % aller standesamtlich geschlossenen Ehen wieder geschieden. (Nicht eingerechnet sind also die auf Dauer angelegten Partnerschaften ohne Trauschein.) Die Zahlen auf dem Land unterscheiden sich nicht wirklich von denen in der Stadt. Das Kleinwalsertal, in dem ich als Pfarrer arbeite, hat eine ebenso hohe Scheidungsquote wie Wien. Es muss andere Gründe als den urbanen Lebensstil oder unterschiedliche Traditionsbindungen geben, warum sich Menschen, gemessen am Anspruch der Treue und der Unauflöslichkeit, so häufig trennen.

·        Wird eine Ehe auch kirchlich geschlossen, ist es nicht ersichtlich, dass der Segen Gottes, der dabei dem Paar zugesprochen wird, vor Trennungen schützt. Entweder, so muss geschlussfolgert werden, wirkt Gottes Segen nicht oder er wirkt genau in und durch die Trennung. 

·        Zugleich ist es nicht so, dass Menschen leichtfertig in eine Ehe gehen. Trauungen werden nach wie vor häufig mit hohem Aufwand zelebriert. Die kirchlichen Trauungen sind trotz aller Probleme der Kirchen mit ihrer Mitgliederbindung stark und stabil nachgefragt.

·        Partnerschaftsprobleme, Ehekrisen, Trennungen und Scheidungen sind die Hauptursachen für biografische Verwerfungen bei Betroffenen. Ähnlich wie bei der Arbeitslosigkeit können hier Menschen nachhaltig ihr Gleichgewicht verlieren und aus der Bahn geworfen werden. Von Leichtfertigkeiten beim Umgang mit „Lebensabschnittspartnerschaften“ kann hier kaum die Rede sein. Trennung bedeutet Krise. Manche, die Trennung nicht gesucht haben und doch mit ihr konfrontiert sind, geraten in eine gefährliche Nähe zum Suizid bzw. zum Suizidversuch. Sie haben Mühe, sich selbst als Handelnde wieder zu entdecken und sich selbst mit Freude zu lieben.

·        Die Probleme sind nachhaltig und hartnäckig. Eheberatung bei professionellen Stellen hilft seltener als gewünscht und ist sehr oft reine Trennungsbegleitung. Die Probleme liegen offenbar tiefer.

Der Schluss drängt sich auf: In der Krise selbst steckt die Wahrheit. Sie darf nicht als ein nur zu überwindendes Stadium, als Defizit gesehen werden. Sie selbst ist Quelle der Erkenntnis und, religiös gesprochen, der Weg des Segens. Was also will dabei zerbrechen, damit Neues aufbrechen kann? Vielleicht ist dies nicht nur eine persönliche, sondern auch eine allgemeine Frage für unser kulturelles Lernen im Umgang mit Liebe und Partnerschaft.

 

Krise als Chance

„Ich krieg die Krise, Luise!“

Das Wort „Krise“ ist seit einigen Jahrzehnten in den allgemeinen Sprachgebrauch eingewandert. Es hat seinen Schrecken verloren – für die gegenwärtige Generation.

Grund hierfür sind unter anderem auch manche Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, stammen sie nun von Sigmund Freud, Erik Erikson, Jean Piaget oder anderen Anthropologen. Ihnen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass menschlichen Entwicklungsschritten stets eine Phase der Verunsicherung vorausgeht, bevor eine neue, bessere, vollständigere, bewusstere oder kompetentere Stufe in der persönlichen Reifung eingenommen werden kann. Erkannt oder unerkannt ist dieses Konzept schon längst in unsere Alltagskultur und unser Allgemeinwissen eingegangen.

Für meine Eltern war das Wort „Krise“ noch ein Ausdruck für Furchtbares. „Weltwirtschaftskrise“, Armut, Arbeitslosigkeit, Hitler als Retter aus der Krise und andere, eher kollektive Abgründe wurden mit diesem Wort in Verbindung gebracht.

In der Gegenwart sind wir das Wort „Krise“ gewohnt. „Finanzkrise“ taucht in unzähligen Nachrichtensendungen auf. Wir spüren die krisenhaften Auswirkungen aber kaum. Die Zinsen werden auf dem Sparbuch spärlicher. Das war für die meisten aber ohnehin schon so.

Für unsere Gegenwart wird das Wort vergleichsweise stärker in seinen individuellen Aspekten gebraucht. Jede Trennung wird dabei als Krise wahrgenommen. Ob darin jeweils auch eine Chance gesehen wird, ist höchst unterschiedlich, aber keineswegs ausgeschlossen. Hier macht sich ein Mentalitätswandel bemerkbar.

Suizidwünsche, manchmal auch –vollzüge, tauchen häufig auf, wenn Lebenskonzepte, die mit bestimmten Menschen verbunden sind, zerbrechen. Weniger, dass ein bestimmter Mensch fehlt, eher, dass ein bestimmter Mensch nicht mehr als Partner in einem selbstverständlichen Lebensplan seine Rolle spielen will, ist Auslöser der Krise. Die Beziehungs- und Lebenskrise entpuppt sich letztlich als Sinnkrise, wenn es nicht mehr geht, dass Konzepte und Pläne das Unverfügbare strukturieren sollen. Es wird im Grunde eher ein Sinn- als ein Personendefizit schmerzhaft wahrgenommen. Bezeichnenderweise ist ein empfundenes Sinndefizit häufig der Auslöser für Trennungen für die- oder denjenigen, der sich trennt. Er oder sie ist einfach schneller in der Wahrnehmung und in der Ausführung als der (oder die) andere.

Viktor Frankl begründete die Logotherapie, als die „Dritte Wiener Schule der Psychologie“ nach Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler. Er wurde von den Nazis ins Konzentrationslager aufgrund seiner jüdischen Abstammung verbannt. während seiner Haft schrieb er heimlich auf kleinste Papierfetzen die Vorarbeiten zu seinem psychotherapeutischen Standardwerk „Ärztliche Seelsorge“, das ihm während seiner Haft in gewisser Weise das Leben rettete und nach seiner Befreiung 1946 erschienen ist. Er hatte es inmitten seiner größten Krise geschrieben, eben im KZ. Sein Leben und sein durchstandenes Leiden geben diesem Werk eine besondere Würde.

Nicht nur aber auch durch ihn und sein Vorbild wird das Wort „Sinn“ ein Schlüsselbegriff, um Krisen als Chance wahrnehmen zu können.

Zugleich hält der neo-freudianische Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe Erik Erikson fest, dass sich die Entwicklung des Menschen in acht Phasen vollzieht, wobei die Phasenübergänge als Krisen erlebt werden. In jeder Phase ist ein bestimmter Grundkonflikt zu bearbeiten, nämlich:

1. Phase, etwa 1. Lebensjahr, Säuglingsalter: Ur-Vertrauen im Konflikt mit Ur-Misstrauen;

2. Phase, etwa 2. und 3. Lebensjahr, Kleinkindalter: Autonomie im Konflikt mit Scham und Zweifel;

3. Phase, etwa 4. und 5. Lebensjahr, Spielalter: Initiative im Konflikt mit Schuldgefühlen;

4. Phase, etwas 6, bis 12. Lebensjahr, Schulalter: „Werksinn“ im Konflikt mit Minderwertigkeitsgefühlen:

5. Phase, ca. 11. bis 16. Lebensjahr, Adoleszenz: Identität im Konflikt mit Identitätsdiffusion und Ablehnung;

6. Phase im frühen Erwachsenenalter: Intimität und Solidarität im Konflikt mit Isolierung;

7. Phase im Erwachsenenalter: Generativität im Konflikt mit Selbstabsorption und Stagnation;

8. Phase im reifen Erwachsenenalter: Integrität im Konflikt mit Verzweiflung.

Wenn eine Phase durchlebt und der darin beheimatete Grundkonflikt angemessen bearbeitet worden ist, kann sie abgeschlossen werden, um in die jeweils neue Phase einzutreten. Diese baut auf dem vorhergehenden Stadium auf. Wurde diese nicht durchlaufen, gelingt die nächste nicht oder weniger gut. Krisen werden bei Erikson sozusagen als Lernprojekte interpretiert.

Ein Entwicklungsschritt, ein Lebensabschnitt folgt auf den anderen. Menschen machen dabei Erfahrungen, sie gehen als Veränderte aus einem Lebensabschnitt in den nächsten, sie gewinnen Reife, sie entwickeln sich. Sie werden das, was sie eigentlich sind. Sie entdecken Sinn und Integrität und verwirklichen beides prozesshaft in der je eigenen Biografie. Erikson hält auch unter dem Stichwort „Generativität“ fest, dass Menschen in ihren Entwicklungsschritten sich auch für die Belange zukünftiger Generationen öffnen. Damit taucht bei ihm zugleich die Perspektive auf, dass individuelles und kollektives Lernen aufeinander bezogen sind. Hier kommt also das transgenerationale und kulturelle Lernen in den Blick, das weiter unten noch ausführlicher thematisiert werden wird.

Einen weniger deskriptiven oder analytischen, dafür aber narrativen und poetischen Zugang zur „Krise als Chance“ bietet das afrikanische Märchen, das der deutsche Neurologe und Psychotherapeut iranischer Herkunft Nossrat Peseschkian in seinem Buch „Der Kaufmann und der Papagei“ aufgezeichnet hat. Es mag verdeutlichen, wie eine Krise als Lernprojekt verstanden werden kann, indem Widerstände und Entwicklungen positiv aufeinander bezogen werden:

Durch eine Oase ging ein finsterer Mann, Ben Sadok. Er war so gallig in seinem Charakter, dass er nichts Gesundes und Schönes sehen konnte, ohne es zu verderben.

Am Rande der Oase stand ein junger Palmbaum im besten Wachstum. Der stach dem finsteren Mann in die Augen. Da nahm er einen schweren Stein und legte ihn der jungen Palme mitten in die Krone. Mit einem bösen Lachen ging er weiter.

Die junge Palme schüttelte sich, bog sich und versuchte, die Last abzuschütteln. Vergebens. Zu fest saß der Stein in der Krone.

Da krallte sich der junge Baum tiefer in den Boden und stemmte sich gegen die steinerne Last. Er senkte seine Wurzeln so tief, dass sie die verborgene Wasserader der Oase erreichten, und stemmte den Stein so hoch, dass die Krone über jeden Schatten hinausreichte. Wasser aus der Tiefe und Sonnenglut aus der Höhe machten eine königliche Palme aus dem jungen Baum.

Nach Jahren kam Ben Sadok wieder, um sich an dem Krüppelbaum zu freuen, den er verdorben sehen wollte. Er suchte vergebens. Da senkte die stolzeste Palme ihre Krone, zeigte den Stein und sagte: „Ben Sadok, ich muss dir danken, deine Last hat mich stark gemacht.“

In Krisensituationen stellen Menschen die Frage nach dem Sinn ihres je eigenen und des Lebens überhaupt. Sie tun es oft auch in einer ganz unakademischen Weise. Wenn der Sinn abhanden zu kommen scheint, wenn man keinen Sinn mehr erkennen kann in dem, was einen getroffen hat, wenn man das Leben für sinnlos hält, werden Menschen, eben wir alle, in und zu unserer „Eigentlichkeit“ herausgefordert.

Hier ist auch der Ort, an dem der „Mut zum Sein“, mit dem der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich den Glauben umschreibt, in seiner radikalen Form lebendig wird. An solchen Grenzen kann fast nur noch in paradoxer Weise Wahres gesagt werden, weil in dieser Sinnkrise alles in den Abgrund der Sinnlosigkeit stürzt und wir dennoch gehalten sind, obwohl nichts und niemand da ist, der hält. Gott wird dabei erkannt nicht als ein Seiendes neben anderem Sein, sondern als Grund des Seins. Sinnkrisen führen uns in ein mystisches Nichts, in dem Gott als „Großes Trotzdem“ erfahrbar wird.

Zugleich bringen Krisen Menschen auch ganz handfest in die Nähe der Depression oder des Suizidwunsches. Ein lebensgefährlicher Zustand! Gut ist es, wenn er zusätzlich anspornt, das Potenzial der Chance in jeder Krise, insbesondere der Beziehungskrise zu entdecken.

Es kann bei diesen Entdeckungen hilfreich sein, die Fragerichtung im Sinne der Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl umzukehren. Nach dem Begründer der Logotherapie kann die Suche nach Sinn gelingen, wenn der Mensch in seinem Leben eine Wende vollzieht: Nicht er, der Mensch, stellt Ansprüche an das Leben, sondern er ist der vom Leben Befragte. Er antwortet auf den Anruf des Lebens. Oder er verweigert sich diesem Anruf. Das ist dann auch eine Entscheidung. Er reagiert auf seine Berufung. Er folgt dem Ruf Gottes – oder eben auch nicht. Es bleibt immer seine Entscheidung.

Hermann Hesse hat wie kein anderer Dichter dargestellt, wie das Leben aus sich heraus eine Dynamik setzt. In seinem bekannten Gedicht „Stufen“ spricht er poetisch vom Ruf des Lebens, der die Menschen ereilt. Seine Worte kommentieren das eben Gesagte.

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen.

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen.

Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen.

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegensenden.

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan den, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

Fragen drängen sich auf:

Wo liegen die Möglichkeiten zur Veränderung, wenn Trennungen Menschen ereilen, ohne dass sie das gewollt haben?

Was ist, wenn Trennung sozusagen als Schicksal eine unabänderliche Tatsache geschaffen hat?

Viktor Frankl als Begründer der Logotherapie stellt sich dieser Frage und antwortet:

Wenn der Mensch nicht mehr frei handeln kann, kann er immer noch seine Einstellung ändern. Der Mensch kann als einziges Lebewesen zu allem eine persönliche Stellung einnehmen.

Viktor Frankl, schreibt dazu sehr eindringlich in seinem Buch „...trotzdem Ja zum Leben sagen“:

„Ihr könnt mir alles nehmen, aber eins könnt ihr mir nicht nehmen:

Wie ich auf das, was ihr mir antut, reagiere“.

 

Der Mensch kann als einziges Lebewesen seine Einstellung zu einer Situation ändern. Wenn er sich darauf einlässt, kann er innerlich wachsen und reifen. Er verwandelt so eine Krise in eine menschliche Möglichkeit, er wird hellsichtig, und die Welt wird für ihn durchsichtig.

Einstellungswerte sind im Wertekanon nach Frankl die höchsten Werte, die ein Mensch verwirklichen kann. Nur in einer Grenzsituation erfährt der Mensch seine Grenzen bewusst und kann über sie hinauswachsen.

Wenn Trennungen erlebt und oft auch erlitten werden, lautet die Botschaft:“ Du stehst an einem Wendepunkt! Lass los! Kehr um! Fang neu an!“

Einen Hinweis gibt auch das griechische Wort „krisis“ selbst. Es kann übersetzt werden mit „entscheidende Wende“.  

Der erste Schritt der Wende im Sinne von Krisenbewältigung ist, „Ich“ zu sagen und den rückwärts gewandten Blick nach vorne zu richten.

Wer die Frage „Warum?“ verwandelt in die Frage „Wozu?“, setzt Kräfte frei zur Gestaltung der Situation und eröffnet Sinnperspektiven.

Nur in der Krisenbewältigung setzt ein Mensch seine innersten, seine wertvollsten Kräfte frei. Nicht wenige Künstler haben letztlich in einer Krisensituation ihre besten, intensivsten, berührendsten Werke geschaffen.

Wer bei der Warum-Frage stehen bleibt, klagt das Leben an und fordert gleichsam Wiedergutmachung.

Wer sich auf die Frage „Wozu“ einlässt, kann sein Schicksal gestalten. Er lebt verantwortlich. Er verschwendet seine Kräfte nicht in Anklage, Jammern und Schuldzuweisungen, sondern setzt sie ein für sich, für seine Zukunft, zur sinnvollen Gestaltung seines Lebens.

Er kann entdecken, was der Apostel Paulus gemeint haben könnte mit seinem provokativen Satz im Römerbrief im 8. Kapitel, Vers 28:

 

„Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.“

 

Krisen erzeugen Wachstumsschmerzen. Sie sind Begleiter eines Reifungsprozesses.

Reifung geschieht durch Leiderfahrung. Billiger ist menschliche Reife nicht zu haben.

Durch Reifung erreicht der Mensch eine höhere Stufe des Seins. Nun, im Rückblick, kann er erkennen, wozu die Krise gut war, wo ihr Sinn liegt. Nun kann er die individuell an ihn adressierte Botschaft verstehen. Er hat eine neue Dimension der Weltsicht gewonnen.

Das ist Individuation.

Das Ziel dieses Prozesses kann nach biblischem Verständnis wie folgt beschrieben werden:                                 

  1. Ein reifer Mensch kann Gott loben und ihm danken. Er hat eine rationale Einsicht und zugleich ein tiefes inneres Empfinden, dass er sich nicht selbst verdankt. Sein Leben und das, was dazu gehört, ist ihm geschenkt.
  2. Ein reifer Mensch kann klagen und mitleiden. Er nimmt wahr, dass etwas mit dieser Welt nicht stimmt, dass es eine Gerechtigkeitslücke gibt, dass Menschen leiden und Leid verursachen. Er sieht ebenso illusionsfrei, dass es auch unverschuldetes Leid auf dieser Welt gibt.
  3. Ein reifer Mensch lebt Beziehungsfähigkeit. Er bejaht rational, emotional und handlungsbezogen, dass jeder Mensch am „Du“ zum „Ich“ wird. In der Beziehungsfähigkeit erkennt er die Gottebenbildlichkeit des Menschen schlechthin und nimmt sie als Geschenk des beziehungsfähigen Gottes an. In dieser Beziehung wird der Mensch auch zum Co-Kreator des Gottes, der alles gemacht hat, und gestaltet die Welt zum Nutzen aller als Verantwortung Tragender und als verantwortungsvoller Sachwalter Gottes.
  4. Ein reifer Mensch erkennt und verwirklicht seine je eigene Mission und Berufung. Er bejaht den Sinn, den sein Leben hat, und den er zu erkennen sich bemüht. Ein reifer Mensch wird darum zu seiner eigenen ganz persönlichen und praktischen Antwort kommen und diese mit seinem Leben und seiner Existenz füllen. Er wird das große „Trotzdem“ entdecken und leben. Elemente dieser Entdeckung werden die Liebe und die Hoffnung sein.

Die gelingende Verarbeitung von Trennungen wird Menschen diesen Zielen näher bringen.

Der mutige Blick auf Krisen verweist uns auch auf den Gottesknecht im sogenannten Alten Testament. Manchmal wird das Bild des Gottesknechts auch prophetisch auf Jesus übertragen: Der Satz beim Propheten Jesaja im 53. Kapitel, Vers 5, „durch seine Wunden sind wir geheilt“, bezieht sich dann auf das Leiden und Sterben Jesu am Kreuz, das als stellvertretendes Leiden für uns zur Vergebung der Sünden interpretiert wird.

Mit anderen Worten: Wer bewusst durch eine Trennung geht und die Krise als Chance wahrnimmt, wird lernen, wer er oder sie ist, wird verstehen, welcher gute Weg der je eigene ist und welchen Sinn bzw. welche Berufung in seinem eigenen Leben als Schatz verborgen ist.

Der sicherste Weg, genau das zu verpassen ist das Jammern. Es ist das süße Gift der Verweigerung anstehender Wachstumsprozesse.

              

Große Namen

Einführung

Gedanken fallen nicht vom Himmel. Sie entstehen. Im Gebrauch werden sie verändert und erneuert. Gedanken verbinden wir mit Namen und Geschichten.

Unsere Seele denkt persönlich, in Bildern und in Geschichten, eben narrativ. Das ist einfach so. Es macht nämlich große Mühe, ein trockenes philosophisches oder theologisches Konzept zu lesen und zu verstehen. Und wenn wir es verstehen, schütten wir andauernd in Gedanken das heiße Wasser des Lebens auf das gefriergetrocknete Kaffeepulver der Abstraktion, indem wir Namen und Geschichten genau damit verbinden. So macht es die Bibel auch.

Ob es Adam und Eva gegeben hat?

Natürlich ja und natürlich nein! Ihre Namen und ihre Geschichten bürgen für die Wirklichkeit.

Ob es Gott gibt?

Natürlich nein! Denn einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.

Natürlich ja! Immer und immer wieder treibt er uns um und bewegt uns. Was könnte wirklicher und wirksamer sein?

 

Gott, Adam, Eva

Gott? Was will er? Was sagt er?

Sagt er überhaupt etwas? Wenn ja, zu welchem Thema eigentlich?

Und wie redet er, wenn er redet?

Was tun wir, wenn wir verschiedene Positionen und unterschiedliche Botschaften von ihm bzw. über ihn hören?

 

Menschen tun dies: Sie denken nach. Sie fragen.

Gott ist dabei ein Name. Zu Personen oder Wesen mit Namen haben wir eine persönliche Beziehung. Eine Geschichte haben wir auch mit ihm oder ihr … und sie mit uns.

Zugleich ist Gott so eine Art Platzhalter für etwas, das so wichtig ist, dass im Grunde nichts Wichtigeres mehr denkbar ist.

Menschen denken nach über das, was ihnen voraus geht oder ihrer Existenz zugrunde liegt. Es geht automatisch. Manche verwenden dafür eine religiöse Sprache und nennen den Grund des Seins dann „Gott“. Es gibt ja nichts Wichtigeres. Andere versuchen dies nicht-religiös auszudrücken.

Es ändert nicht viel an der Sache, ob wir religiös oder a-religiös sind. Alle Menschen sind Suchende. Und einen Gott, den es „gibt“, gibt es ja, siehe oben, ohnehin nicht. Darin könnten sich Gläubige und Ungläubige leichten Herzen einigen.

Willkommen im Club der Zweifler, Sucher und anderen guten Christen!

Ob bekennende und missionierende Atheisten hier mitkommen können, liegt an ihnen. Sie sind auf jeden Fall eingeladen zum Gespräch.

Menschen denken über „Gott“ bzw. die Voraussetzungen ihres Seins nach und versuchen, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Menschen sind sozusagen per se Philosophen und Theologen. Sehr viele philosophieren oder treiben Theologie in einer nachvollziehbaren Weise, so dass Worte und Sprache gefunden werden, die es anderen möglich machen, mitreden zu können. Noch mehr Menschen philosophieren und theologisieren in Form von Selbstgesprächen, ohne die Worte nach Außen zu tragen. Und noch größer ist die Anzahl derer, die es eher unbewusst tun und erst nach einer Art Selbsterkundung merken, was sie denken oder glauben. Manche leihen sich dazu dann auch die Worte von anderen, in denen sie sich wieder finden. Dieser Prozess läuft schon seit Jahrhunderten und Jahrtausenden. Die Bibel, die Geschichte der Theologie und der Religionen insgesamt erzählen von den Wechselhaftigkeiten dieser Gedanken und Worte.

Die Gedanken und Worte der Religionen und Weisheitslehren, der kulturell verdichteten Sedimente des Gedachten und Geglaubten sind nicht egal. Sie haben große Kraft. Sie führen zu Lebenshaltungen, Einstellungen, Gefühlen und Lebensentscheidungen, die das Leben von einzelnen Menschen und das Zusammenleben ganzer Gesellschaften prägen.

Auch jedes Paar, das sich trauen lässt, ist selbst eine kleine Gemeinschaft von Theologen. Zumindest hat ein Brautpaar mehr oder weniger bewusst Anteil an der Theologie, die diese Feier begründet und möglich macht. Mit dem Akt der Trauung geben sie direkt oder indirekt zu verstehen: Es ist sinnvoll, Gott um seinen Segen für eine Partnerschaft zu bitten. Gott hat diese Partnerschaft gewollt und sie „zusammengefügt“. Sein Wille ist es, dass diese Partnerschaft monogam, in Liebe, Treue und Respekt, auch in den wechselvollen Begebenheiten des Lebens, geführt wird und erst mit dem Tod endet.

Die, die sich mit dem kirchlichen Akt der Trauung identifizieren, ihn gut heißen und ihn vollziehen oder vollziehen lassen, geben damit zum Ausdruck, dass sie eine doch recht bestimmte Vorstellung davon haben, was Gott diesbezüglich will. Diese Vorstellungen verdichten sich im Ablauf und dem Wortlaut, der sogenannten Agende, eines Traugottesdienstes. Da ist manches, aber nicht alles frei verhandelbar. Die sinntragende Struktur der Symbolhandlungen und Worte sind dem Pfarrer, der Pfarrerin durch die Kirchenleitung und die christliche Tradition vorgegeben.

Im Christentum ist es dabei seit jeher bestimmende Grundhaltung, die Bibel nach dem Willen Gottes zu befragen. Als „Heilige Schrift“ gibt sie oder soll sie Auskunft geben über die Geschichte Gottes mit seinem Volk aus Juden und Christen, in der sich dann Gottes Wille spiegelt und zu erkennen gibt. Fragt man die Bibel nun nach verlässlichen Aussagen zu einer Ethik der Partnerschaft oder der Ehe, tritt ein unterschiedlicher Befund zu Tage. In aller Kürze ist dabei festzuhalten:

In der mythologischen Schöpfungserzählung, ganz am Anfang der Bibel im 1. Buch Mose, wird der Mensch schlechthin als „Adam“ und „Eva“ vorgestellt. Sie sind sehr eng aufeinander bezogen als unterschiedliche und geschlechtliche Personen, für die „es nicht gut ist, dass sie alleine sind“. Sie sind vielmehr „ein Fleisch“. In ihrer Angewiesenheit und Fähigkeit zur Beziehung zueinander, haben sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Gott. Sie werden nämlich im Kontext ihrer Beziehungsfähigkeit und ebenso in ihrer Kraft zur Weltgestaltung „Ebenbilder Gottes“ genannt.

Doch sofort im Anschluss daran wird in der Sündenfallgeschichte in erzählender und mythologischer Form klar darauf hingewiesen, dass gerade in der Art und Weise, wie Adam und Eva ihre Beziehung und damit auch die Beziehung zu Gott gestalten, etwas grundlegend schief geht. Das hat weit reichende Konsequenzen. Der sogenannte Ungehorsam gegenüber Gott, symbolisiert im Essen der verbotenen Frucht, ist in ihre Beziehung zueinander hineingeraten. Es hat Folgen: Menschen entdecken die Scham voreinander und vor Gott. Gott selbst, offenbar verärgert, vertreibt sie aus dem Paradies. Fortan müssen Adam und Eva alias die gesamte Menschheit ein nicht-paradiesisches, sondern vielmehr ein schmerz- und mühevolles Leben führen.

Trotz des Umstandes, dass der Mensch schlechthin, also irgendwie alle Menschen, ungehorsam gegenüber Gott sind, scheint eine gelingende Partnerschaft zwischen Adam und Eva, Mann und Frau, möglich zu sein. Sie bekommen Kinder und die Menschheitsgeschichte geht weiter.

Wie das Gelingende zu bewerkstelligen ist, wie Liebe geht, erzählt uns die biblische Urgeschichte leider nicht. Wir hätten gern von diesem kulturellen Lernen profitiert. Nun müssen wir alles selbst ausprobieren und aus Versuch und Irrtum weiter lernen.

Wir erhalten aber immerhin als biblischen Impuls, dass Gott nach den Vorstellungen der Verfasser der Urgeschichte offenbar eine irgendwie geartete partnerschaftliche Beziehung zwischen Menschen will. Die war ja am Anfang nach dem eigenen Urteil Gottes in dem ersten Schöpfungsbericht, einem poetischen Schöpfungslied „sehr gut“. Es kann daher geschlossen werden, dass Gott prinzipiell will, dass Beziehung gelingt. Es liegt durchaus nahe, dass es in seinem Sinn ist, dass Menschen gelingende Beziehung einfach und unmittelbar als gut empfinden. Es gibt also sehr gute Gründe, davon auszugehen, dass diese positive Voreinstellung in Gottes Namen schön und hilfreich ist und im Hinblick auf die gesamte Schöpfung gilt bzw. gelten soll. 

 

Rut und patriarchale Patriarchen

Schwieriger wird es dann, wenn die Aufmerksamkeit auf die sogenannten Väter und Vorbilder des Glaubens im restlichen Alten Testament gelenkt wird.

Eine einheitliche Linie für eine überzeugende Beziehungsethik oder –theologie fehlt hier. Dafür fehlen nicht überdeutliche Anzeichen, dass hier die Beziehungsthematik sehr stark von patriarchalen und gewalttätigen Strukturen überlagert wird. Selbst das Kernstück alttestamentlicher Ethik interpretiert im sechsten Gebot, das sich im 2. Buch Mose findet, den Ehebruch als eine Art Einbruch oder Störung von Besitzverhältnissen. Überhaupt wird in problematischer Weise das polygame Lebenskonzept, also die prinzipielle Möglichkeit zur Vielehe, in der Hauptlinie alttestamentlicher Überlieferung übernommen und im Grunde nicht problematisiert. Dies scheint nach gegenwärtigem Bewusstseinsstand für den größten Teil der westlichen Welt als wenig erstrebenswert zu gelten, obwohl die meisten Menschen natürlich irgendwie polygam, nämlich seriell monogam leben. Die wenigsten Zeitgenossen bleiben nämlich bei dem ersten Partner ein Leben lang. In der Regel findet zumindest vor der Ehe eine mehr oder weniger lange „Testphase“ für verschiedene Beziehungen statt. Die auf die Zeitschiene verteilte Polygamie oder serielle Monogamie, wird erst dann zu einer echten Herausforderung für die vertrauensvolle Beziehungsgestaltung, wenn Kinder mit im Spiel sind, eventuell auch Kinder aus verschiedenen Partnerschaften. Wie bekommt man das zusammen? Wer hat welche Rolle?

Und, siehe da, plötzlich hat man die gleichen Probleme wie die antiken Schriftsteller in der Bibel.

Auch das Buch Rut kann in der Bibel den Befund patriarchaler Machtverhältnisse nicht wirklich relativieren, weil die darin vorkommende wunderschöne Liebes- und Beziehungsgeschichte zwischen Rut, einer ausländischen Migrantin, und Boas, einem einheimischen Grundbesitzer und Landwirt, nicht repräsentativ ist für die Gesamtheit der alttestamentlichen Überlieferung. Aber umso sympathischer erscheint diese interkulturelle, antike Liebesgeschichte! Nicht zuletzt das in dieser Erzählung verarbeitete Thema der Ausländerfreundlichkeit lädt zum selbständigen Lesen ein. Also: Bibel suchen, aufschlagen und lesen! Es lohnt sich.

Interessant ist, dass das erste Kapitel des Matthäus-Evangeliums im Stammbaum eine Erwähnung von Rut und ihrem Partner Boas enthält. Der Evangelist hält fest, dass „Boas Obed zeugte von der Rut“. Damit sind beide direkte Vorfahren von Jesus selbst. Soll hier vielleicht die im Buch Rut erzählte Ausländerfreundlichkeit in Verbindung mit partnerschaftlicher Liebe und Fürsorge mit der Jesus-Geschichte verbunden werden? Das wäre eine schöne und menschenfreundliche, insbesondere migrationsfreundliche Interpretation der biblischen Überlieferung. Mir gefällt das.

Im Bereich der indirekten Andeutungen bleibt ebenso die erotische Poesie im Hohelied des Alten Testaments. Leider bleibt das „Hohelied Salomos“ darum auch weniger aussagekräftig. Es handelt sich hierbei ursprünglich um „weltliche“ Dichtkunst, die wunderschöne erotische Elemente enthält. Bezeichnenderweise landete das Hohelied in der Heiligen Schrift, indem es im zweiten christlichen Jahrhundert als allegorische Literatur in den Kanon der christlichen Bibel aufgenommen wurde. Dabei wurde das Hohelied Salomos gerade nicht als das angesehen, was es eigentlich war, nämlich eine poetische Schilderung gelingender erotischer Beziehung. Es fand seinen Platz in der Bibel, weil es spiritualisiert und damit allegorisch gedeutet wurde. Man interpretierte es auf das Verhältnis Gottes zur menschlichen Seele hin – auch schön, aber auch etwas platonisch.

Trotz aller Schwierigkeiten im Konkreten und gerade durch die allegorische Auslegungsgeschichte kann durch das Erste, das sogenannte Alte Testament zumindest festhalten werden, dass es eine positive Beziehung zwischen gelingender Erotik und Gott gibt, weil diese gleichnisfähig für die Beziehung Gottes zum Menschen ist.

Zugleich deutet sich an den Rändern der alttestamentlichen Überlieferung an, dass eine prinzipielle Überwindung der Vorherrschaft von offener und struktureller Gewalt und von Besitzdenken  in den familiären und zwischenmenschlichen Beziehungen gesucht wird.

Beide Impulse, die Gleichnisfähigkeit bzw. Ähnlichkeit von erotischer Liebe und Gott sowie die Perspektive der Gleichheit von Mann und Frau und der damit zu überwindenden Interpretation des Zusammenlebens als eines irgendwie gearteten Besitzes werden im sogenannten Neuen Testament und in der dadurch beeinflussten Kulturgeschichte der Liebesbeziehung aufgenommen und weiter entwickelt. Am Horizont leuchtet kurz, sehr kurz die Verbindung von Liebe und Freiheit auf.

 

Jesus und Paulus

Jesus war seiner Zeit voraus.

Jesus setzt ganz neu ein, nämlich gewaltig und radikal.

Gute Gründe sprechen dafür, die Antithese in der Bergpredigt des Matthäusevangeliums, Kapitel 5, Vers 27 und 28 für ein im Grunde authentisches Wort von Jesus zu halten:

 

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen.“

Vers 31 und 32 jedoch im gleichen Kapitel, in dem von der Möglichkeit einer erlaubten Scheidung die Rede ist, stammt zumindest teilweise aus der Gemeinde des Evangelisten Matthäus. Vielleicht hat er sich diesen Halbsatz, „es sei denn wegen Ehebruchs“, auch selbst ausgedacht. Dieser Einschub ist gewiss kein authentisches, jesuanisches Wort. Diese Relativierung passt nicht zum Kontext und auch nicht zu Jesus selbst. Wir verlassen uns dabei auf die Ergebnisse der historischen Jesus-Forschung, weil die neutestamentliche Wissenschaft in diesem Punkt relativ einig ist.

Die Original-Antithese aus Jesu Mund könnte in etwa so gelautet haben: „Es ist (von euren religiösen Traditionen) gesagt: „Wer sich von seiner Frau scheidet, der soll ihr einen Scheidebrief geben.“ Ich aber sage euch: Wer sich von seiner Frau scheidet, der bricht die Ehe und macht, dass sie die Ehe bricht.“

Zweifelsohne wird hier die Thora, also der absolut verbindliche Teil der religiösen und ethischen Überlieferung Israels, von Jesus in vorher nie gekannter Weise radikalisiert und verschärft. Dies ist eine Tendenz, die die gesamte „Rede aller Reden“, die Bergpredigt charakterisiert. Die ganze christliche Theologie- und Kirchengeschichte hat sich auch immer wieder an dieser Radikalität abgearbeitet – ohne bisher eine allgemeine und befriedigende Lösung gefunden zu haben. Viele sektenartige Erscheinungen in der Geschichte der christlichen Kirchen aller Jahrhunderte lebten von dem Versuch, die radikale Bergpredigt praktisch umzusetzen. Sie scheiterten allesamt an der Radikalität und den damit nicht zu harmonisierenden Widersprüchen der Menschen. Jesus verlangt hier von uns Unmögliches. Dies haben auch schon die ersten Christen nach Jesu Tod und Auferstehung erkannt. Sie behalfen sich damit, dass sie begonnen haben, Ausnahmen zu erlauben und die Radikalität Jesu aufzuweichen. Der Evangelist Lukas hat dies dann auch zu einem spannenden Streitgespräch im 19. Kapitel seines Evangeliums komponiert. Wer mag, kann ja seine Bibel aus dem Bücherschrank heraus holen und selbst entdecken …

Der angemessene Umgang mit der Radikalität der Bergpredigt beschäftigt die Christen schon, seitdem es sie gibt. Dies gilt allgemein für den gesamten Anspruch der „Rede aller Reden“ und besonders auch für das spezielle Scheidungsverbot.

Auf der anderen Seite zeigt sich Jesus an anderen Stellen der biblischen Überlieferung in ethischen Fragen wieder erstaunlich flexibel.Manchmal ist er an radikalem Eifer vollkommen uninteressiert. So findet er, dass der Ehe kein unbedingter Wert zukommt, weil in der Auferstehung sowieso alles „ganz anders“ sein wird, wie das dazu passende Streitgespräch im 22. Kapitel des Matthäusevangeliums verrät. Auch der provokante Strafverzicht Jesu angesichts des Ehebruchs im 8. Kapitel des Johannesevangeliums zeugt eher von einer Thora-Relativierung in Beziehungsdingen durch Jesus selbst.

Dieses Ineinander von Verschärfung und Relativierung ethischer Leitgedanken in Beziehungsdingen weist im Gesamtkontext der Jesus-Überlieferung der Evangelien Matthäus, Markus, Lukas und Johannes darauf hin, dass es Jesus um eine ganz neue Begründung von Beziehung, Partnerschaft und Liebe geht. Kein Mensch soll einen Menschen „begehren“ im Sinne von „verdinglichen“, „Besitzen wollen“, „funktionalisieren“ und „verzwecken“. Liebe, Ehe, Beziehung, Partnerschaft ist nach Jesu Vorstellung immer an sich gut, schön, des radikalen Einsatzes wert. Niemals ist Liebe ein Mittel zum Zweck, um etwas zu bekommen!

Liebe darf also nicht verzweckt werden, um sexuelle Lust zu steigern und deren Befriedigung zu erreichen. Liebe ist auch nicht das Vehikel für irgendeine Versorgung materieller oder seelischer Art, um sich selbst die Befriedigung der materiellen und psychischen Bedürfnisse zu sichern. Liebe und Ehe dürfen auch nicht dem Zweck der Ehre, des Ansehens, der ethischen oder religiösen Leistungsfähigkeit dienen. Eine Beziehung darf sich nur Liebe nennen, wenn sie zweckfrei ist und aus dem Bereich des Notwendigen ausbricht. Eine Liebe, die besteht, um etwas zu erreichen, fällt bei Jesus durch. Liebe küsst in Jesu Namen die Freiheit von Notwendigkeiten.

„Gott ist die Liebe“, sagt der Verfasser des ersten Johannesbriefes im Neuen Testament. Dabei ist Gottes Liebe vorraussetzungslos und bedingungslos. Gott liebt, weil er liebt. Punkt. Nichts sonst! Und genau das ist der Maßstab aller Liebe, die Jesus meint.

Und auch hier gerät Jesu Botschaft an die Grenzen, die Menschen in ihrem Leben bestimmen. Eine Liebe, die frei ist vom Diktat der Zwänge und Notwendigkeiten, war für die damalige Zeit kaum denk- und lebbar. Allenfalls die reiche Oberschicht der damaligen Zeit konnte sich der Fantasie einer zweckfreien Liebe hingeben. Ob die Antike diese Möglichkeit zu leben und zu lieben auch praktisch gesucht hat, ist fraglich. Ich persönlich gehe davon aus, dass das Ideal einer nicht-verzweckten Liebe in der griechischen Antike allerhöchstens im homo-erotischen oder im elitär philosophischen, also „platonischen“ Bereich entdeckt wurde. Das Denken und Leben im heterosexuellen Bereich war noch zu stark vom Patriarchat geprägt, als dass hier die Vision der lebendigen Einheit von Liebe und Freiheit kräftige Wurzeln hätte bilden können.

Jesus war seiner Zeit voraus. Es brauchte noch Jahrhunderte, bis die Befreiung der Liebe aus dem Reich der Notwendigkeiten und Verzweckungen auszubrechen beginnt. Viele Jahrhunderte musste diese Vision überwintern in einer Zeit, die sich gegenüber dem Körperlichen, dem Eros und der Sexualität äußerst kritisch verhielt. Es verbanden sich die asketischen Aspekte des Christentums mit einer neuplatonischen Tradition, die alles Sinnliche, Materielle, Weltliche von vornherein dem Bereich der „Welt“ und der Sünde zuordnete. Eine Ahnung gelungener Erotik und Liebe wurde sozusagen inkognito konserviert und zu diesem Zweck „sublimiert“. Dies geschah in den Motiven der Christus- und Marienmystik, die nicht unerhebliche erotische Phantasien auf sich zog und zugleich religiös verwandelte. Mit Abstrichen könnte hier auch die mittelalterliche Minnedichtung angeführt werden. Der damalige Adel und das höfische Ambiente pflegten den Minnesang eher als ein intellektuelles Spiel, das damals bekannten Regeln folgte. Es war weniger authentische Empfindung oder gelebte Wirklichkeit. Aber trotzdem hat sie als Sublimierung oder Umlenkung erotischer Kräfte eine wichtige Funktion im der Weitergabe der Idee der zweckfreien, reine Liebe. Doch wir geben unumwunden zu: Aus evangelischer Perspektive geschahen diese „Haltbarmachung“, „Überwinterungen“ oder „Umlenkungen“ zerbrechlicher theologischer Einsichten eher an den Rändern des christlichen Glaubens.

In der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, verbunden mit den Gedanken der Romantik änderte sich diese Eiszeit. Für privilegierte Teile der mittleren bis gehobenen Schicht der damaligen Gesellschaft eröffneten sich aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen manche Möglichkeiten, das Leben auch unter Absehung des täglichen Überlebenskampfes anzusehen und zu gestalten. Mit der Einschränkung, dass das sprichwörtliche „gutbürgerliche“ Zeitalter mit dem dazu gehörenden Wohlstand erst durch die industrielle Revolution am Ende des 19. Jahrhunderts ansatzweise Wirklichkeit wurde, begann die Suche nach der gelungenen Liebe vor etwa 200 Jahren von Neuem. Dies gilt letztlich trotz der um sich greifenden Doppelmoral dieser Zeit, die hier überhaupt nicht verheimlicht werden soll.

Zudem lebten die Bürger des 19. Jahrhunderts in politisch und wirtschaftlich sehr instabilen Zeiten. Es gab Unterdrückung, Bevormundung und ein Emanzipationsstreben, das sich mit Gewalt versuchte durchzusetzen. Die sogenannte 48er Revolution lässt sich auch als eine Art Bürgerkrieg beschrieben mit Frontlinien, die nicht immer klar sind. Bei Licht betrachtet war das Leben vieler Romantiker sehr fern von dem, was sie geschrieben haben. Es mag sein, dass hierbei die Frauen der Romantik besser abschneiden.

Trotzdem: Es gilt festzuhalten, dass in der Romantik ein Ideal der Liebe kommuniziert wurde, das seine Verwirklichung noch vor sich hatte und hat.

Nicht zu unterschätzen sind auch die emanzipatorischen Aufbrüche der damaligen Sozialisten und Anarchisten. Sie haben ihre gesellschaftliche Basis in der sich formierenden Arbeiterklasse. Hier kommt es vor, dass das herkömmliche Eheverständnis sich relativiert und neu zu finden sucht.

Und dann hatte sich da ja noch der Apostel Paulus zu Wort gemeldet. Er empfahl in seinem ersten Brief an die Korinther „zu lieben als liebte man nicht“. Es klingt uneigentlich, paradox und mystisch.

Paulus war ein charismatischer, gewaltiger, theologisch häufig unsystematischer Prediger und Briefeschreiber der ersten Christenheit. Manche sind der Ansicht, er hätte wohl am ehesten Postkarten geschrieben, die dann andere zu geschlossenen Briefen zusammengefügt haben. Aber vielleicht war sein Gedankengang auch etwas sprunghaft aufgrund seiner großen inneren Energie. Dennoch schien er im persönlichen Auftreten dann alles andere als souverän und kraftvoll gewesen zu sein. In dieser Spannung, zu wollen und eigentlich zu können, es aber nicht zu vollbringen, blieb ihm als Option übrig, allein der göttlichen Gnade zu vertrauen und nicht der eigenen Kraft. Dieser Prioritätenwechsel veranlasste ihn wohl, manchmal einfach alles zu riskieren, auch sein Leben und seine Gesundheit.

Aber das Risiko schmälerte sich für ihn subjektiv, da er auch ein Apokalyptiker war. Er ging davon aus, dass „die Zeit kurz ist“, dass Jesus bald wiederkommt und alles neu macht, dass damit Umwälzungen und Konflikte verbunden sein würden, die jeden Menschen bis auf das Äußerste beanspruchen.

Folgerichtig suchte er in seinem Leben die größtmögliche Unabhängigkeit und blieb zeitlebens überzeugter Single – wohl in zölibatärer Variante. Es gibt in seinen Schriften keinen wirklichen Anhalt für irgendeine erotische Beziehung, die er gehabt hätte. Er empfiehlt auch seinen Lebensstil weiter und betont: Es ist eine Empfehlung, nicht ein Gesetz oder ein Zwang. Die Beziehungslosigkeit ist nach seinen Worten im ersten Brief an die Christen in Korinth nicht ethisch höherwertiger. Sie ist aber viel praktischer. Er favorisiert eine theoretische und praktische Lebenshaltung, die man als distanziert und abschiedlich bezeichnen kann. In allen Lebensvollzügen soll das Loslassen-Können integriert sein. Paulus fasst diesen Lebensstil in sehr poetische Worte, die man im Neuen Testament der Bibel, im ersten Korintherbrief, im 7. Kapitel ab Vers 29 nachlesen kann:

„Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.

Ich möchte aber, dass ihr ohne Sorge seid.“

Nun leben wir schon fast 2000 Jahre nach Paulus. Jesus lässt sich offenbar – gemessen an der apokalyptischen Erwartung der Wiederkunft Christi, die auch Paulus intensiv hegte – Zeit, viel Zeit. Theologen haben dafür ein Fremdwort und nennen es „Parusieverzögerung“. Es beschreibt eine kaum zu unterschätzende Herausforderung des jungen Christentums. Die frühen Christen mussten noch einmal neu anfangen, für sich die unüberbietbare Bedeutung von Jesus Christus zu suchen und zu finden auch dann, wenn er ausbleibt, sozusagen im Himmel abwartet. Wir sind noch dabei, genau diese „Parusieverzögerung“ in unser Denken und Glauben zu integrieren. Ein Teil dieser Verarbeitungen finden auch in Hollywood-Filmen statt, die das Thema „Weltuntergang“ bearbeiten. Die Ursachen des Weltendes im Film sind Maschinen, Aliens, Ufos, Kriege, Umweltkatastrophen oder Meteoriten. Dass es dann meist immer doch noch ein Happy End gibt, zeigt, dass Menschen das Hoffen noch nicht verlernt haben und diese Hoffnung publikumswirksam filmisch in Szene gesetzt sehen wollen. Dafür wird dann auch an der Kinokasse gern bezahlt. Ich bin auch gern ein Kinogänger und mag solche Hoffnungsgeschichten. Klar!

Zugleich arbeiten wir auch noch an der Empfehlung des Paulus, das Loslassen-Können einzuüben. Es gibt die Beobachtung, dass diese paulinische Lebenshaltung und Ethik sehr viel Ähnlichkeit mit den Anschauungen des traditionellen Buddhismus hat. Ein Buddhist geht davon aus, dass alles Leid durch das „Anhaften“ an irdischen Dingen verursacht ist. Diese Parallele kann hilfreich sein, Paulus auch im nicht-apokalytischen Kontext ernst zu nehmen.

Paulus und der Buddhismus sind sich einig: Das Ersehnte das Erstrebte, das Ziel der Sehnsucht, die Erlösung, das gelungene Leben oder das Nirvana oder wie auch immer der Zielpunkt des religiösen oder ethischen Strebens genannt wird, ist paradoxerweise nur auf dem Umweg über das Loslassen, das „Nicht-Anhaften“ erreichbar. Das Ersehnte ist nur durch und in radikaler Freiheit – auch und gerade durch und in der Freiheit vom Ersehnten – erreichbar. Es ist und bleibt ein Paradox. Es ist rational widersprüchlich. Zugleich öffnet sich dem, der sich darauf einlässt, emotional und existenziell die Ahnung, dass das mit dem Loslassen irgendwie seine Richtigkeit hat. Das Motiv des Loslassens und der absichtslosen Absicht, um das zu erreichen, was ersehnt wird, hat längst Eingang gefunden in die gängigen Psychotherapien der Gegenwart. Fast überall wird das „Loslassen“, das Lösen, Entkrampfen, Entspannen gepredigt und einmassiert. Der Übergang zur Wellness-Kultur ist fließend.

„Lass los, was du ersehnst, um es zu bekommen!“ Und: „Pflege die absichtslose Absicht!“ Auch wenn es sich diese Sätze albern anhören, muss man ihnen zugestehen: Paradoxa sind ja nicht unwahr. Sie haben ihre Wahrheit und Wirksamkeit auf einer tieferen Ebene.

Einen weiteren Gedanken gibt uns Paulus zu unserer Suche mit. Paulus geht davon aus, dass Frau und Mann in einer Beziehung gleich und reflexiv aufeinander bezogen sind. Er schreibt wörtlich im ersten Brief an die Korinther im 11. Kapitel, Vers 11f: „Doch in dem Herrn ist weder die Frau etwas ohne den Mann noch der Mann etwas ohne die Frau; denn wie die Frau von dem Mann, so kommt auch der Mann durch die Frau; aber alles ist Gott.“

Diesen Gedanken variiert er auch noch einmal in seinem Brief an die Galater im 3. Kapitel aus der Perspektive der Gemeinschaft in Gottes Namen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“

Der Gedanke der prinzipiellen Gleichheit von Mann und Frau im Bereich von Religion und Eros ist für die damalige Welt, die vom Patriarchat geprägt war, so revolutionär, dass Paulus es selbst nicht wagt, ihn für alle Eventualitäten, die es in Korinth oder in anderen von ihm gegründeten oder besuchten Gemeinden gibt, anzuwenden. Auch seine Zeit war damals noch nicht gekommen, nicht ganz zumindest.

Eine für uns wesentliche Überlegung des Paulus ist auch der Hinweis, dass Körperlichkeit, Eros und Sexualität etwas Heiliges sind. Der Ort der Lust ist auch der Ort, an dem Gott wohnt. Der Körper ist der Tempel des Heiligen Geistes. Es gibt, so lässt sich indirekt aus dem 1.Korintherbrief in Kapitel 6 schließen, eine positive Beziehung zwischen mystischem und erotischem Erleben. Das ist auch gut so nach Paulus. Darum ist es nicht verwunderlich, dass Erotik wie das heilige Erleben Kraft hat. Diese Kraft ist ambivalent: Sie kann hilfreich und lebensdienlich, geradezu heilsam sein. Sie kann aber auch das Gegenteil bewirken und seelisch, sozial und körperlich zerstören. In dieser Ambivalenz sind Religion und Eros ein Geschwisterpaar. Aufgrund dieser doppelten Möglichkeit, in der sich Eros realisieren und auswirken kann, ist ein achtsamer und bewusster Umgang damit angebracht. Dies gilt wiederum genauso für den religiösen Bereich.  

Der Eros ist heilig, er hat eine religiöse Dimension. Der respektvolle und zugleich selbstverständliche Umgang mit ihm ist ihm angemessen

Zuletzt thematisiert Paulus auch das, was bei Jesus predigend und erzählend im Hinblick auf Eros und Beziehung aufgefallen ist: die Freiheit. Programmatisch ruft er im Kontext der Beziehungsthematik im hier besprochenen Korintherbrief allen Menschen zu: „Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.“ Bezeichnenderweise geht mehr als die Hälfte aller Nennungen des Begriffs „Freiheit“ in der „Biblischen Handkonkordanz“, einem alphabetischen Wortregister für die Bibel, auf das Konto des Paulus.

Sein Erbe der Theologie der Freiheit wird uns noch weiter beschäftigen. Dies gilt besonders dort, wo das visionäre Ziel des neutestamentlichen Ansatzes erkannt wird, dass nämlich Liebe und Eros dann zu sich selbst und zur Vollendung kommen, wenn die Freiheit umfassend in die Liebe integriert wird.

Das heißt: Liebe ist Liebe im neutestamtlichen Sinn, wenn sie sowohl frei ist von Zwängen und Notwendigkeiten des Überlebens und der Konventionen als auch frei davon, das Ersehnte und den oder die Geliebte festhalten zu wollen oder zu müssen.

Die Romantik hat dies intuitiv aufgegriffen. Durch das romantische Liebesideal hilft sie, die Vision von der Zweckfreiheit der Liebe nicht zu vergessen. Sie hält die Horizonte in alten Grenzen offen und wartet auf ihre Zeit.

Die Romantik konnte im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die dargestellte Vision, die im Neuen Testament Wort und Schrift findet, aufgreifen, weil einige materiellen Zwänge für einige Privilegierte wegfielen. Der tägliche Überlebenskampf für manche, nämlich bürgerliche Bevölkerungsschichten entfiel oder wurde zumindest stark gemildert. Die Utopie einer zweckfreien Liebe hatte seither die praktische Chance einen Ort im alltäglichen Leben zu bekommen. Auch wenn dieser Ort noch klein war, ermöglichte er doch, dass die visionäre Zweckfreiheit und Unbedingtheit der Liebe nicht mehr automatisch u-topisch, ort-los, war. Ihre Realisierung konnte sich anbahnen. Sie war aber im Ganzen gesehen nicht erfolgreich. Die damalige bürgerliche Welt scheiterte noch daran, sie dauerhaft zum Leben zu erwecken. Die patriarchale Ordnung, die verhinderte, dass Frauen allgemein und verlässlich Männern auf gleicher Augenhöhe und gleichberechtigt begegnen konnten, nahm dieser Vision – vorerst – wieder den Lebensatem. Die Freiheit in Dingen der Liebe und der erotischen Beziehung war noch zu oft die Freiheit der Stärkeren. Das waren meist die Männer. Diese Freiheit war für die Welt der Frauen noch nicht erreicht, weil die vorherrschende Lebenshaltung vor allem den Einstellungen und Interessen der herrschenden Männer entsprach. Zwar erkannten der Frühromantiker Novalis und andere nach ihm, dass eine Frau für das gegenseitige Spiel der Liebe (und auch für das dazu gehörende anregende und niveauvolle Gespräch) ihre Fähigkeiten ungehindert entfalten können muss. Aber trotzdem blieb im gesellschaftlichen Rahmen die Rollenverteilungen wie gehabt: Die Frau ist für die häusliche Reproduktion samt Kindern und Küche zuständig, der Mann erobert die Welt draußen.

Auch auf der theoretischen Ebene des Überbaus, also auf der Ebene der Gedanken, Worte und Ideen, wo Glaubenshaltungen, Ideologien und philosophische Grundeinstellungen beheimatet sind, stießen die Romantiker nicht zu einer gesellschafts- und damit beziehungsverändernden Kritik vor.

Dafür erkannten sie, dass „die Kunst des Liebens“, wie es später Erich Fromm nennen wird, und die eigene persönliche Entwicklung, die Selbstfindung und –verwirklichung einen durchaus lang andauernden persönlichen Prozess darstellen. Solche Individuation, Selbstwerdung, braucht Zeit und hat eine Geschichte. Zeitgenossen der Romantik warfen in diesem Zusammenhang auch die Frage auf, ob der Individuationsprozess eines Menschen, der untrennbar auch mit seiner Liebesfähigkeit und seinen Beziehungsgeschichten verbunden ist, überhaupt in einer einzigen, dauerhaften und monogamen Beziehung beheimatet werden kann. Braucht am Ende jeder Mensch den Partnerwechsel zur persönlichen Reifung? Ist wahres Erwachsen-Werden und Reifen im Vollsinn nur unter den Bedingungen einer Polygamie oder seriellen Monogamie möglich? Brauchen Menschen eine tiefe emotionale und erotische Beziehung zu mehreren anderen Menschen gleichzeitig oder nacheinander, um zu lernen, wer sie wirklich sind? Dies ist eine immer noch offene Frage. Denn genau an dieser Fragestellung arbeiten wir uns heute noch intellektuell und existenziell ab, leiden, hoffen und sind glücklich - je nach dem Stand der jeweiligen Beziehung.

Einen Antwortversuch unternahm Peter Lauster mit seinem Buch „Das Nein in der Liebe“.  Individuationsprozesse können nach Lauster mit einer dauerhaften Beziehung kombiniert und in sie integriert werden. Das „Nein“, die Abgrenzung, die jeden Schritt der Selbstfindung begleiten muss, gehört in die Liebe. Wenn es nicht darinnen ist, verwandelt es sich und wird zum „Nein“ gegen eine Beziehung, gegen eine Liebe. „Nein“ in einer Beziehung sagen, heißt einen klaren Standpunkt, der auch Abgrenzungen enthält, einzunehmen und Teil der Liebesbeziehung werden zu lassen. Abgrenzung, Eigenheit, prozessorientierte Suche nach der eigenen Identität, nach der Antwort auf die wesentliche Frage „Wer bin ich denn eigentlich und wirklich?“ soll also in der Beziehung und in ihrer Dynamik beheimatet werden.

Dies ist ein durchaus hilfreicher Ansatz. Er nimmt das Anliegen des romantischen Liebesideals auf und widerspricht seiner konkreten Ausgestaltung zugleich. Er konfrontiert nämlich die Unmittelbarkeit und die unrealistische, träumende Einheit der Liebenden und ihre Vorstellungen von der je eigenen Liebesfähigkeit der Menschen mit den realen Möglichkeiten, Grenzen und Bedingtheiten. So relativiert sich vieles. Das Ideal und die Vision werden mit der Realität der Menschen in Berührung gebracht und praktisch miteinander vermittelt. So entstehen neue, konkrete Wege in eine bessere Zukunft.

 

Große Worte

Einführung

Große Worte sind in der gegenwärtigen Postmoderne außer Mode gekommen. Sie stehen unter Ideologieverdacht. Das spricht nicht gegen die großen Worte, sondern gegen ihre momentane Verwendung. Sie sind ja vorhanden. Sie bewegen uns auch.

Aber das Reden und Nachdenken über sie ist an andere Orte gewandert. Großen Themen, große Gesten und große Worte tauchen unter Kitschverdacht im Kino und in der populären Musik wieder auf. Dies wird zwar humorvoll kommentiert in Satire und Comedy, doch die großen Worte und die großen Themen sind eindeutig da. Vielleicht sind sie nicht mehr eingebunden in große Erzählungen. Nichtsdestotrotz wollen wir auf sie hören und ihnen Gehör verschaffen, damit wir das Kleine und das Große nicht miteinander verwechseln und eher eine Chance haben, das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu können.

 

Lernen

Individuelles Lernen

Warum kommt ein Menschenkind, das in Grönland geboren wird, mit seiner Umwelt ebenso gut klar wie ein Kind der Massai in der afrikanischen Savanne oder ein Kind in Hamburg, Berlin oder München?

Weil es lernen kann! Lernen ist der Schlüssel.

Menschen schreiben ihr kognitives Programm selbst.

Zugegeben: Der Vergleich von Gehirn und Computer liegt zwar nahe. Dennoch trifft der Vergleich nicht ganz. Wesentlich ist nämlich: Das Gehirn eines Menschen hat kein vorinstalliertes Programm wie ein PC oder ein Laptop. Erst im Ausprobieren der Welt schreibt das Gehirn sein Programm im übertragenen Sinn selbst. Beim Strampeln, Lallen, Krabbeln programmiert das Baby durch Versuch und Irrtum. Wie muss ich klingen, damit ich lachende Augen von Mama bekomme? Wie komme ich durch welche Koordination in den Vierfüßlerstand? Die Antwort wird durch Versuch und Irrtum herausgefunden und dann programmiert. Das Aneignen, Speichern und Verarbeiten von Informationen geht parallel und ineinander mit dem Programmieren aller Lebens- und Denkvollzüge oberhalb der angeborenen Reflexe.

Noch einmal ganz programmatisch: Ihr Gehirn ist kein Computer mit vorinstallierter Software. Gehirne werden im Gebrauch entwickelt. Der Mensch ist ein lernendes Wesen. Sein Gehirn sorgt dafür, dass auch das Lernen gelernt wird.

Merke: Du bist, was du lernst.

Dies gilt für alle Bereiche des Lebens, die Liebe inbegriffen.

Zugleich ist die Lebenswelt eines einzelnen Menschen zu klein und die Lebensspanne des Individuums zu kurz im Verhältnis zu den Informationen, die aufgenommen und verarbeitet, und die Programme, die entworfen, geschrieben und ausprobiert werden müssen, um im Hier und Heute das Leben bestehen zu können. Viele haben daran in der Vergangenheit gearbeitet, viele tun es in der Gegenwart, was wir im Hier und Jetzt brauchen für ein gelingendes Leben und Lieben. Unser Wissen, unsere Kultur und unsere Kompetenz, mit dem Leben umgehen zu können, ruht auf den Schultern derer, die vor und mit uns gelernt haben.

Kulturelles Lernen ist ein Schlüsselwort für gelingendes Leben.

 

Kulturelles Lernen

Warum gibt es keine Neandertaler mehr? Sie waren doch so gute Jäger in unwirtlicher Umgebung! Intelligent waren sie nach unserem heutigen Erkenntnisstand auch. Und vor allem stark! Besonders in der Gruppe! Doch das half nichts. Im Erbgut gegenwärtiger Menschen finden sich keine direkten Verbindungslinien zum Neandertaler. Andere Vorfahren, kleinere, flexiblere, findigere und lernbereite Menschen hatten offenbar irgendwie einen menschheitsgeschichtlichen Vorteil.

Ein anderer Zweig unserer Vorfahren nämlich, der sogenannte homo sapiens, war durch seine Bereitschaft zu kulturellem Lernen in der Lage, dauerhaft und unter den unterschiedlichsten Bedingungen Leben weiterzugeben. Die moderne Genetik bringt erstaunliche Klarheiten zutage. Eine Erkenntnis ist zum Beispiel, dass wir modernen Menschen auf der ganzen Welt von relativ kleinen Gruppen im prähistorischen Afrika abstammen, deren direkte Nachfahren es heute noch gibt und die relativ friedlich leben und so die unermesslichen Zeiträume bis in die Gegenwart kollektiv überbrückt haben. In mehreren Wanderungswellen verbreiteten sie sich über den Globus – bis nach Mitteleuropa und in die Gegenwart. Das Überlebensprinzip heißt „kulturelles Lernen“. Es ermöglichte unserer Menschheitsfamilie, so unzählig viele verschiedene Lebensräume mit so extrem unterschiedlichen Lebensbedingungen dauerhaft zu besiedeln.

Warum wurde die Würzburger Residenz, die mittlerweile als UNESCO-Kulturerbe jährlich von Touristenscharen besucht wird, von Balthasar Neuman im Jahre 1720 bis 1744 großartig erbaut und mit beeindruckenden Fresken von Tiepolo versehen, ohne dass an Toiletten für deren damalige adelige Bewohner gedacht wurde? Es gruselt oder belustigt kunst- und kulturbeflissene Besucher, wenn sie bei einer Führung hören, unter welchen fragwürdigen hygienischen Bedingungen die Menschen des Barocks ihre Notdurft verrichteten. Es standen einfach noch Schritte des kulturellen Lernens aus, die grundlegende Hygienemaßnahmen im Alltag der damaligen Menschen verankern konnten. Aber Johann Balthasar Neumann war schon dabei zu lernen: Er baute auch Kanäle für Frischwasser in Würzburg. Kulturelles Lernen geschieht oft in kleinen Schritten.

Warum verhalten sich Christen in aller Regel nicht wie die islamistischen Taliban, die die Scharia gut finden und zur Bestrafung von Übeltätern drakonische Maßnahmen wie das Handabhacken, Auspeitschen und Steinigen bevorzugen? In manchen Teilen der christlichen Bibel gibt es doch genügend Anhaltspunkte, die eine solche Vorgehensweise, oberflächlich gesehen, unterstützen könnten!

Gott sei Dank gibt es auch in Angelegenheiten des Glaubens und der Ethik ein kulturelles Lernen! Ein gewisser Laban zum Beispiel prahlte in dem ältesten Lied der jüdisch-christlichen Überlieferung, das in der sogenannten Urgeschichte in der Bibel im ersten Buch Mose im 4. Kapitel nachzulesen ist, wie hemmungslos er Gewalt einsetzen kann, um sich einen Platz in der Gesellschaft zu erobern.

Das zweitälteste Lied, das die Prophetin Miriam im zweiten Buch Mose im 15. Kapitel singt, stammt schon von einer Frau und verherrlicht eine Befreiungstat. Nebenbei wurde dabei gelernt, dass Gewalt begrüßenswert ist, wenn sie der politischen Befreiung dient wie hier der Flucht des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei. In Verbindung mit dieser emanzipatorischen Gewalterfahrung und den damit verbundenen Lernschritten wird das große menschheitsgeschichtliche Projekt „Abschaffung der Blutrache“ angegangen. Nur noch „Zahn um Zahn, Auge um Auge“ (das sogenannte Talionsprinzip im 2. Buch Mose, Kapitel 21, Vers 24 und öfter) soll gewaltmindernd wirken. Die Menschheit soll dem nie enden wollenden Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt nicht mehr schutzlos ausgeliefert sein. Ein kulturelles Lernen wurde begonnen. Zweifellos ist es dabei als Erfolg zu werten, dass der sogenannte Gewaltquotient in der Menschheitsfamilie abnimmt. Es wurde und wird auf dem Planeten Erde statistisch gesehen immer wahrscheinlicher, dass Menschen nicht eines gewaltsamen Todes sterben müssen. Das sagt zumindest die Statistik. Zugleich ist allen vernünftigen Menschen unmittelbar klar, dass das Zusammenleben der Menschheit im Hinblick auf allgemeinen Frieden eine bleibende Aufgabe ist.

Rund eineinhalb tausend Jahre nach Miriam taucht zur Zeitenwende ein Wanderprediger am See Genezareth mit dem Namen Jesus von Nazareth auf. Er stößt einen weiteren kulturellen Lernschritt mit der Predigt aller Predigten an, die der Evangelist Matthäus auf einem Berg lokalisiert und letztlich aus vielen Einzelteilen zusammenkomponiert hat. „Liebt eure Feinde und tut Gutes denen, die euch hassen.“ Diese Lektion haben wir heute noch auf der Agenda. Und jetzt wird es richtig rasant in den häufig nur angedachten, manchmal auch vollzogenen Schritten des kulturellen und individuellen Lernens: Der Apostel Paulus ist das biblische Beispiel hierfür. Er verfolgte als religiöser Eiferer diejenigen, die Jesus als Messias ansahen. Dann, wenige Jahre nach Jesu Tod lernte er, das, was er aggressiv verfolgte, in sich selbst zu entdecken, wahrzunehmen und wertzuschätzen. Er lernte, die „gute Nachricht“ als seine eigene anzunehmen. Das sogenannte „Bekehrungserlebnis vor Damaskus“, bei dem aus dem Christen- und Christusverfolger Saulus ein Paulus und ein Prediger der vorbehaltlosen und bedingungslosen Gnade wurde, war ein Lernschritt der Menschheit. Paulus hat ihn vorgemacht, viele machten und machen es ihm nach: Der Feind ist in mir, bzw. besteht aus Teilen von mir selbst. Ich kann mit ihnen und mit mir gnädig umgehen und das „Böse in mir“ (Paulus im 7. Kapitel seines Römerbriefes) annehmen, lieben und verwandeln bzw. verwandeln lassen.

Freilich ist kulturelles Lernen keine Garantie für einen dauerhaften Lernfortschritt. Zahllose Wehrmachtsangehörige, viele unserer geliebten Väter, Großväter und Urgroßväter fielen im Zweiten Weltkrieg auf die Stufe Labans zurück. Sie übten Gewalt aus, um etwas darzustellen. Oder sie wollten lieber gehorchen als Außenseiter zu sein. Auch die wohlerzogenen Jungs der amerikanischen Mittelschicht taten als Soldaten in Vietnam ganz andere Dinge, als sie zu Hause gelernt hatten.

Es ist schier unglaublich. Aber es ist auch wahr, dass viele SS-Leute und KZ-Aufseher eigentlich feinsinnig und gebildet waren, Musik und Blumen liebten, schöne, vor allem romantische Gedichte zitieren konnten und die Rolle vorbildlicher Familienväter einnahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten die Milgram-Experimente, dass der Rückfall in die Barbarei überall, in jeder Kultur, in jedem Land und in jeder sozialen Schicht sehr leicht möglich und höchst wahrscheinlich ist, wenn die Rahmenbedingungen es verlangen.

Trotz der prinzipiellen Umkehrbarkeit der Lernprozesse gilt: Kulturelles Lernen ist der Schlüssel für jeden Ausgang aus Unmenschlichkeit und Unmündigkeit, aus Unglück und Unrecht. Kulturelles Lernen ist auch der Weg, Liebe und Geborgenheit zugleich zu erfahren in dem zuvor ersehnten und nun auch bewohnbaren „Reich der Freiheit“ in Beziehungsdingen. Dass der Weg auch zurück beschritten werden kann und dies leider viel zu häufig geschieht, ist kein Argument gegen die Einsicht, dass die Lösung vorn liegt und der gute Weg nach vorn geht. Kulturelles Lernen ist die Voraussetzung für Fortschritt in einem ganz positiven, menschenfreundlichen Sinn. Eher metaphysisch ausgedrückt: Die Wahrheit liegt weder hinter noch schwebt sie über uns. Sie liegt vor uns. Das Gesamt-Ziel aller Dinge bestimmt die Wahrheit oder Angemessenheit der einzelnen Wegstrecken. Und das Erreichen des Ziels steht bekanntlich noch aus.

Das Entwicklungsprinzip, das sich in den verschiedenen Schichten der biblischen Überlieferung wiederfindet und Stoff für die wissenschaftlichen Bemühungen vieler Theologengenerationen bereit hält, heißt „kulturelles Lernen“. Weil Menschen kollektiv etwas lernen, stehen in der Bibel eben auch verschiedenen Dinge und Aussagen. Aber sie haben einen inneren Gesamtzusammenhang in den Lernprozessen.

Manche machen aus dieser Beobachtung einen ganzen eigenen Entwurf. In Anlehnung an die Software-updates von Computern schreibt z.B. Werner „Tiki“ Küstenmacher ein Buch und nennt es „Gott 9.0“. Vieles klingt darin recht esoterisch. Doch bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Ausführungen, ist es geradezu wegweisend, die Entwicklungs- und Individualpsychologie mit der Kulturanthropologie sowie der Religions- und Theologiegeschichte zusammenzuführen. Ob man dazu Ken Wilber und sein Konzept mit New-Age-Anklängen als übergeordnete quasi-religiöse Klammer braucht, sei dahingestellt. Christen könnten sich auch einfach auf Jesus von Nazareth berufen, der nach dem Johannes-Evangelium im 16. Kapitel gesagt haben soll: „Der Geist der Wahrheit wird euch in alle Wahrheit führen.“ Die gute Prozesshaftigkeit des Lebens ist in christlicher Perspektive schon längst in der Schöpfungstheologie und der Lehre vom Heiligen Geist bzw. der Dreieinigkeit verankert. Kulturelles Lernen ist ein Projekt Gottes von Anfang an.

Für diese Lern- und Entwicklungsprozesse reicht ein Menschenleben nicht aus. Wir leben einfach zu kurz, um alles selbst und allein lernen zu können, was wir für das Leben und das Lieben brauchen. Darum werden Lernerfahrungen von Generation zu Generation auch weitergegeben und bei der Weitergabe freilich auch überarbeitet und korrigiert. Doch letztlich ruht unsere Kompetenz, mit uns selbst, mit anderen und mit der Welt angemessen umgehen zu können, auf dem Fundament der Lernerfahrungen unserer Vorfahren. Das Wort für die Gesamtheit dieser Lernerfahrungen ist Kultur und die Aneignung dieser Erfahrungen ist das kulturelle Lernen.

In Sachen Partnerschaft, Verlieben und Entlieben, Individuation und Geborgenheit, stehen wir seit wenigen Jahrzehnten vor einer menschheitsgeschichtlich vollkommen neuen Herausforderung: Die Liebe will gelebt werden im Reich der Freiheit nach dem Ausgang aus dem Reich der Notwendigkeiten.

Dieses kulturelle Lernen wird nicht gelingen, wenn wir die Suchbewegungen der Gegenwart, mit denen Menschen oft auch nicht richtig glücklich sind, zur Norm erheben. Den Eindruck, dass hier die „normative Kraft des Faktischen“ heilig gesprochen und ethisch geadelt wird, erweckt zum Teil die kontrovers diskutierte „Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“, die 2013 erschienen ist und im Gütersloher Verlagshaus veröffentlicht wurde. Sie stellt fest, dass es in der Bibel sehr verschiedene Formen des Liebens gibt und der damit verbunden verschiedene Formen von Familienstrukturen. Das Gleiche diagnostiziert sie auch für die Gegenwart. Ihr Fazit daraus ist, dass es eben keine Norm für das familiäre Zusammenleben gibt. Sie widerspricht damit ihrem eigenen Anspruch, den sie im Untertitel der Veröffentlichung trägt. Die „normative Kraft des Faktischen“ setzt sich in der Argumentation durch. Leider. Das prophetische Potenzial der Theologie kommt nicht zum Zug. Die Suche nach dem guten Weg zum Leben und Lieben muss hungrig weiter gehen. Von einer „Orientierungshilfe“ darf man mehr erwarten.

Bezeichnenderweise tappen die eher konservativen Kritiker der „Orientierungshilfe“ genau in die gleiche Falle. Sie sprechen die bürgerliche Kleinfamilie heilig. Doch die gibt es so erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vorher konnte oft aus ökonomischen Gründen diese Lebensform nur etwa von einem Zehntel der Gesamtbevölkerung gelebt werden. Das protestantische Pfarrhaus ist eine kulturelle Institution und zählte oft zu den wertvollen Impulsgebern gesellschaftlicher Entwicklung. Aber es ist auf die Breite der Gesellschaft gesehen auch eine Ausnahme. Die bürgerliche Kleinfamilie von Mama, Papa und ein bis drei Kindern, das war und ist eher eine Episode der Nachkriegsära. Auch bei den Kritikern der „Orientierungshilfe“ hat also die „normative Kraft des Faktischen“ die Feder geführt. Zudem setzen die Kritiker der EKD-Veröffentlichung sich dem Verdacht aus, gerade dem kulturellen Lernen in Sachen Partnerschaft im Weg zu stehen, weil sie Bastionen des beginnenden 20. Jahrhunderts verteidigen. Diese stehen ja gerade unter Kritik, weil sie kein gutes Lieben und Leben im Reich der Freiheit voranbringen. Die Kritiker der Orientierungshilfe haben kein inniges Verhältnis zum Wort „Freiheit“. Das macht stutzig.

Was ist hilfreich? Zugegeben: Kulturelles Lernen ist weder einfach noch eindeutig. Es ist ein Prozess. Dass katholische Bischöfe die Haltung ihrer Gemeindeglieder zu Partnerschaft, Ehe und Familie auf Geheiß des Papstes und per Fragebogen erkunden sollen und hoffentlich auch wollen, scheint auf den ersten Blick mutig zu sein und in die richtige Richtung zu weisen. Kulturelle Lernprozesse sind immer dialogisch. Zugleich gilt auch hier die kritische Erkenntnis: Die normative Kraft des Faktischen gibt letztlich noch keine Orientierung, auch dann nicht, wenn eine ethische Orientierung per Mehrheitsvotum zustande kommen sollte. Zur ethischen Evidenz gehört mehr – etwa die Orientierung hin auf übergeordnete, unverfügbare Werte. Das Leben, das die beiden Pole von Freiheit und Geborgenheit vereinen kann, könnte solch eine Grundorientierung sein.

Es wäre hilfreich, in der ethischen Urteilsfindung noch einmal ganz neu anzusetzen, indem die Kraft der Individuation als Gottes Segen interpretiert wird. Sie soll wahr und ernst genommen werden als  ein Teil der guten Schöpfung Gottes von Anfang an. Damit würde auch klar gesagt werden, dass Gottes Schöpfung noch andauert. Die Rede von der „creatio continua“, wie es die traditionelle Theologie nennt, könnte in neuer Weise auch für Individuationsprozesse, kulturelles Lernen und Ethik fruchtbar gemacht werden. Auch die Debatten um die neuere Hirnbiologie und den radikalen Konstruktivismus könnte hier erneut richtig spannend werden und aus dem langweiligen Streit herauskommen, ob Gott nun eine Projektion, ein Konstrukt, ein „Hirngespinst“ ist oder eine eigene Wirklichkeit, eine sogenannte Aseität, darstellt. Wenn wieder neu gefragt wird, welche Lernschritte wir brauchen, um unser Leben und Lieben in Freiheit dauerhaft gut gelingen zu lassen, und welche Rolle dabei Gott spielt, wird es spannend. Es könnte sein, dass Gott als Postulat der lernenden, sich emanzipierenden, praktischen Vernunft im Dienst der gelingenden Individuation auch im öffentlichen Diskurs eine Auferstehung feiern wird. Hier ist jede und jeder selbst Lernender und darf auf gute und kommunikative Mitschüler und Mitschülerinnen hoffen.

 

Liebe und Gott

Gott ist die Liebe.

Wir nehmen Bezug auf die programmatische Aussage: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Der unbekannte Apostel, der uns im Neuen Testament im ersten Johannesbrief in Kapitel vier, Vers 16 programmatisch begegnet, fasste schon vor knapp zweitausend Jahren zusammen, was uns bis heute bewegt: Die Frage nach der Liebe hat einen unbedingten Horizont, Gott.

Zumindest nennen manche die absolute Perspektive so. Aber Etikett oder Name sind weniger wichtig, als der Inhalt, als das Gemeinte. Es gibt nichts Wichtigeres und nichts Wesentlicheres als die Liebe. Ob das Leben an sich wichtiger ist als die Liebe, ob der Wille zum Leben höher zu bewerten ist oder eben die Grundhaltung der Liebe, ist eine offene Frage. Sie wird es wohl auch bleiben. Mystiker, Theologen, Filmemacher und Songschreiber werden auch weiterhin darin den Stoff finden, der Millionen Menschen, Euro und Dollar bewegt. Das messianische Motiv der Stellvertretung, dass einer für den anderen stirbt oder zumindest den Tod riskiert aus irgendeiner Form der Liebe, bezieht in dieser Frage eindeutig Position: Die Liebe hat die Priorität. Das Postulat ihrer praktisch-hoffenden Vernunft heißt: Es gibt eine Auferstehung für die Liebe. „Die Liebe bleibt“. Rock-, Pop- und Schlagerkultur, Hollywood und Paulus sind sich trotz extrem unterschiedlicher Welten darin einig: „Es bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; aber die größte unter ihnen ist die Liebe“, so Paulus im ersten Brief an die Korinther, Kapitel 13, Vers 13 im Neuen Testament. Und diese existenielle Grundaussage wird, zumindest im christlichen Kontext, durch die Ostererfahrung, dass nämlich Jesus von den Toten auferstanden ist, ins Recht und in die letztendlich bestimmende Wirklichkeit gesetzt.

Gottes Liebe ist stärker als der Tod. Punkt.

Er ist selbst die Liebe. Punkt.

Er ist die alles bestimmende Wirklichkeit. Punkt.

Darum ist die Liebe die alles bestimmende Wirklichkeit. Im Grund gibt es nichts weiter zu sagen. Alles andere folgt daraus.

Liebe ist darum keine moralische Kategorie. Man kann sich nicht zu ihr entschließen oder sich ihr verweigern. Liebe ist keine Angelegenheit für die Ethik, den erhobenen Zeigefinger, die Bestrafung oder die Erziehung des Einzelnen oder der Menschheit. Sie ist. Punkt.

Liebe ist eine trans-moralische Kategorie. Sie überschreitet die Fragen von Moral und Ethik. Sie gehört zum Bereich des Existenziellen und auch des Mystischen wie das Sein an sich, die Geworfenheit in das Dasein, die Freiheit, die Zeit und das Schicksal.

Zur Liebe kann man sich nicht entscheiden. Andersherum macht es Sinn: Wenn wir in der Liebe leben, dann entscheiden wir uns für sie. Die persönliche Entscheidung ist das sekundäre, das was aus einem anderen, wesentlicheren Grund folgt.

„Es“ liebt im Menschen. Und so man eine religiöse Sprache bevorzugt: „Gott“ liebt im Menschen. Der Mensch ist hineingenommen in einen Strom der Liebe. „Es“ bzw. „der Strom“ ereignet sich. Menschen befinden sich darin, schwimmen in ihm, werden durch ihn „unter Strom gesetzt“.

Die Mystik gibt uns dafür eher eine Sprache als die Ethik, die das Wollen und Sollen der Menschen als Individuen und als Kollektiv als Ausgangspunkt aller Argumentationen und Anweisungen nimmt. Weil Gott liebt und er das alles begründende Sein ist, ist die Liebe wirklicher und wirksamer als alles andere. Man soll die Liebe nicht tun. Sie tut es alleine und nimmt uns dabei mit. Liebe und Sein sind eins. Ethik und Mystik sind zwei Seiten einer Medaille.

Das gilt es nun durchzubuchstabieren für Liebe, Ehe, Partnerschaft, Verlieben und Entlieben, Trennung und Scheidung und die Suche nach Wegen für die Zeit danach.

 

Verlieben und Bleiben

Ein Paar verliebt sich, will zusammen bleiben und organisiert das Leben gemeinsam. Eine gemeinsame Wohnung wird gesucht und gefunden, die gemeinsame Zukunft in den Blick genommen. Unausgesprochen oder auch klar in Worte gefasst, spielt der Wunsch nach Beständigkeit und Treue bei den meisten Paaren eine große Rolle. Irgendwann taucht dabei der Wunsch auf, standesamtlich zu heiraten und sich hernach auch kirchlich trauen zu lassen. Das ist gar nicht so selten, wie gedacht. Trotz des Relevanzverlustes der Kirche werden die sogenannten Kasualien der Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung oft nachgefragt.

Die einen mögen die Trauungen etwas konservativer, die anderen mögen es gern anders als herkömmlich. Doch stets ist das Treueversprechen neben dem Trausegen im Zentrum des Gottesdienstes. Dies bedeutet:

·        Dass Liebe die bestimmende Wirklichkeit ist, hat Gott so gewollt und geschaffen. Es fiel bereits der programmatische Satz: „Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh 4, 16b)

·        Die partnerschaftliche Liebe ist als ein Teilbereich der umfassenden Liebe ebenso Teil von Gottes guter Schöpfung. Mehr noch: Sie ist gleichnisfähig für die Liebe zwischen Gott und Mensch.

·        Dass zwei Menschen zueinander finden in der Liebe, ist von Gott gewollt und individuell von ihm so vorgesehen. Er hat Liebende jeweils zusammengeführt. Die Liebe ereignet sich. Sie ist mehr als der jeweils einzelne Entschluss und die Stimmungslage zweier Menschen.

·        Die menschliche Freiheit, sich für einen bestimmten Menschen zu entscheiden, ist trotz der „Fügung“ Gottes paradoxerweise nicht geschmälert. Vielmehr ist es so, dass Gottes Handeln und das freie Handeln des Menschen in der Liebe zusammen schwingen und eine Einheit bilden.

 

Radikalität und Liebe

Der Grundrahmen partnerschaftlicher Liebe ist die Dauer, sind die Treue und eine wie auch immer gelebte Einmaligkeit. Hier hinein passt der programmatische Satz: „Was Gott zusammenführt, soll der Mensch nicht scheiden.“ Er wird u.a. von Markus in seinem Evangelium in Kapitel  Kapitel 10, Vers 9 überliefert. Es spricht einiges dafür, dass er wirklich authentisch auf Jesus zurückgeht und so oder so ähnlich aus seinem Munde stammt. Noch eindrücklicher wird dieses Scheidungsverbot, wenn es mit dem Teil der Bergpredigt zusammen gesehen wird, der radikal vor dem Ehebruch warnt (Matthäus, Kapitel 5 bis 7. Auch dann, wenn die Ehe nur in der Phantasie vollzogen wird, sozusagen als erotischer Tag- oder Nachttraum, ist mit den Gedanken schon der Ehebruch perfekt.

Diese Radikalität Jesu trifft in der Überlieferung der Bibel durch die Kirche auf die hellenistische Gedanken- und Gefühlswelt der antiken Länder und Gesellschaften rund um das Mittelmeer. Damaliger common sense war dabei, dass das Geistige wichtiger ist als das Materielle.

Das hat Konsequenzen, nämlich:

  • Sexualität gehört in den materiellen Lebensbereich und ist somit „uneigentlich“, weniger wahr, weniger wichtig. Die „Seinsdichte“ ist bei Angelegenheiten, die den Körper betreffen, wesentlich geringer als bei den geistigen, philosophischen oder religiösen Dingen, Überlegungen oder Begriffen.
  • Die Wahrheit, das „eigentliche Sein“ bzw. das, was wirklich wahr ist, ist immer schon vorhanden. Es liegt in der Welt der „Ideen“, einem geistigen, metaphysischen Bereich, immer schon vor, thront sozusagen „über“ den Köpfen der existierenden Menschen. Die Wahrheit ist „über“ uns und nicht in der Zukunft. Sie ist also nach hellenistischem Denken nicht „vor“ uns. Das (neu)platonische Konzept verlagert das wirklich Gute immer ins Geistige. Dorthin soll diesem Denken zufolge alle Entwicklung gehen. Das Christentum hatte sich dem in weiten Teilen in der Vergangenheit angeschlossen. Oft wurde es aus heutiger Sicht übertrieben. In der Gegenwart merken wir nämlich, dass dies zu einseitig war, weil das körperlich-materielle Sein mindestens ebenso zur guten Schöpfung gehört wie die unsichtbare Welt. Liebe ist aus sehr guten Gründen auch erotisch und sexuell.
  • Mann und Frau bildeten nach dem alten griechischen Denken ursprünglich eine Einheit. Der echte, der wahre Mensch ist erstens „androgyn“, also beides, Mann und Frau zugleich, und zweitens real nicht vorhanden. Das wirkliche Leben kennt nämlich nur Männer und Frauen als eben solche Menschen mit geteilter Geschlechtszugehörigkeit. Die Liebe ist nach platonischer Vorstellung der Versuch des auf- und zerteilten Menschen, diese Einheit wiederzufinden. Der wirkliche Mensch ist „unrund“ und unvollkommen. Die erotische Sehnsucht ist letztendlich ein metaphysisches Verlangen nach der verlorenen Einheit.  

Diese Konsequenzen wirken nach. Die Verbindung von Jesu radikaler Ehe-Ethik und dem platonischen Liebesideal prägen Sehnen und Trachten der Menschen, die mit dem Gedankengut der christlich-abendländischen Welt aufwachsen. Sowohl der Minnesang im Mittelalter als auch das romantische Liebesideal des bürgerlichen Zeitalters zeugen davon. Sehr leicht verliert man so die Bodenhaftung. Liebe will aber gelebt werden unter den real existierenden Lebensbedingungen der Menschen. Es scheint, als verlöre auch die in der Gegenwart auftauchende Idealisierung der Kleinfamilie die Bodenhaftung zum realen Leben. Sie wird zwar kirchlich und vom Staat auch steuerlich gestützt. Aber immer schwieriger wird es, sie unter den Bedingungen der modernen Welt zu leben. Ist die Zunahme der Single-Haushalte bei jungen Erwachsenen der einzige Ausweg?

 

„Ja“

Jesus im Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Vers 37: „Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein“. Es geht in gelingenden Beziehungen um Klarheit und ein vorbehaltloses „Ja“-Sagen.

Wir rechnen damit, dass Beziehungen und Ehen scheitern.

Wir schließen „Ehe-Verträge“, die ja im Grunde Verträge sind für den Fall des Scheiterns. Es sind also eher „Nicht-Mehr-Ehe-Verträge“. Einen individuell ausgehandelten Ehevertrag im eigentlichen Wortsinn habe ich noch nicht gesehen. Zugleich hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, einen Ehevertrag geschlossen zu haben, wenn Trennung und Scheidung anstehen.

Zugleich leben die Liebe und jede Partnerschaft vom Impuls des Unbedingten, Vorbehaltlosen und Bedingungslosen. Gefährliche Mischung!

Und doch, neben aller biografischen Gefährlichkeit, weil Gefühle und materielle Schutzregelungen auf der Strecke bleiben können, steckt darin eine tiefe und paradoxe Wahrheit. Jede tiefe Wahrheit, so lehrt es uns der Glaube, insbesondere die Mystik, hat etwas Paradoxes. Sie vereint nämlich sichtbare Widersprüche, weil auf einer tieferen, unsichtbaren Ebene der Widerspruch transzendiert, aufgehoben und versöhnt wird.

Die evangelische Kirche hat bisher das Thema „Trennung und Scheidung“ eher unter dem Aspekt des Scheiterns, der Vergebung und der Seelsorge, also eher als Problem behandelt. Aber intuitiv ist sie auf der weiterführenden Spur. Sie fragt in der Trauung ohne Hemmungen nach der Treue bis „dass der Tod euch scheidet“. Dennoch hat sie überhaupt keine Probleme damit, Menschen, die geschieden sind, wieder kirchlich zu trauen. Man darf vermuten, dass sie darum Trennung und Scheidung irgendwie auch als Projekt sieht.

Wie es zur gleichen Zeit in der katholischen Kirche mit dieser Frage weitergehen soll, wird in letzter Zeit wieder stärker diskutiert. Der Ausgang der Diskussionen ist bei Abfassung des Manuskripts noch offen.

Das unbedingte Trauversprechen macht ernst damit, dass jede wertschätzende, gelingende und liebende Beziehung auf Unverbrüchlichkeit und Dauer angelegt ist. Unter dieser Maßgabe schwingt in jeder Beziehung Ewigkeit mit. Karl May hat mit Winnetou und Old Shatterhand genau dies auch für nicht-erotische Beziehungen in narrativer Form festgehalten. Trotz aller Brüchigkeit im eigenen Leben des Karl May!

Das Konzept der Monogamie nimmt diese Einsicht auf und kombiniert sie mit der zusätzlichen Erfahrung, dass unser Leben endlich ist. Wir sind nicht stark genug, nicht kommunikativ genug, nicht vital genug, wir haben nicht genug Zeit, um mehrere Beziehungen gleichzeitig mit gleich intensiver, unbedingter Entschlossenheit zu leben. Bei Licht betrachtet leben wir seriell monogam, haben also mehrere Partner oder Partnerinnen nicht neben- sondern nacheinander. Dafür reichen in der Regel die Zeit und die Kraft. Und diese Lebensform lässt sich noch am ehesten damit verbinden, dass wir Lernende sind.

Wir verlieben uns nämlich, weil wir am anderen und an der anderen etwas entdecken, was wir selbst haben und uns daher Heimat gibt, nach der wir uns sehnen. Oder wir verlieben uns, weil wir etwas am Gegenüber entdecken, was uns fehlt und was wir integrieren wollen, um „vollständiger“ zu sein. Auf jeden Fall ist es ein Schritt in der Entwicklung, dem Wachsen und dem Festigen unserer eigenen Persönlichkeit. Die Liebe kommt abhanden, wenn diese Entwicklungsprozesse abgeschlossen oder nicht mehr möglich sind. Dann drängt uns die Kraft der Individuation zu neuen Ufern. Und diese Kraft ist stark, stärker als moralische Überlegungen. Manchmal, leider, ist sie aber auch schwächer als Sicherheitsbedürfnisse. Dann gilt: Die Angst ist die Grundsünde, bedeutet Hemmung und Zurückweichen. Sie ist die Absage und das Versagen des Weges, den Gott uns weist. Dann verlässt uns der Mut, eigentlich und authentisch zu leben und zu lieben. Angst schnürt dem Mut und dem Leben die Luft ab.

In dieser Situation ist die Sehnsucht heilig. Sie ist der erste Schritt zur Entdeckung der Berufung, für die uns, jede und jeden individuell, Gott geschaffen und vorgesehen hat. Sehnsucht macht Mut.

Der Mensch ist in ein Wesen, das Sinn braucht und Sinn leben kann, sagt die Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor E. Frankl. Auch dein Leben hat Sinn, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sagt der christliche Glaube. „Nachfolge Jesu“ und „Berufung“ bedeuten Sinnsuche und Sinnverwirklichung. Gottes Segen liegt darin. Mut tut gut.

Und genau im Horizont der Berufung können Trennung und Scheidung vorkommen, eben als Teil des größeren Ganzen, dem Sinn in Gottes Namen, der „heiligen Individuation“.

Und zu jedem Schritt dabei brauchen wir das ganze, unbedingte, vorbehaltlose, bedingungslose „Ja“. Ja und Amen!

 

Treue

hat etwas mit Stabilität und Bindung zu tun, klingt aber sehr moralisch. Letzteres ist nicht gut. Denn der moralische Anstrich, die moralinsaure Anmutung dabei verhindert das Verstehen.

Wir setzen neu an und übersetzen „Treue“ mit dem Wort „stabiler Anschluss“.

So wird der Blick frei, wahrnehmen zu können, dass jeder Mensch, genauso wie jedes Säugetier, auf Bindung und Anschluss angewiesen ist. Nicht nur Sex bei der Zeugung hat einen grundlegenden Bindungsaspekt am Anfang des Menschseins. Auch Kuscheln, Augenkontakt, Stimme und Geruch brauchen Menschen von Anfang an als grundlegenden und lebensnotwendigen „Andock-Mechanismus“. Menschenbabies und andere kleine Säugetiere sterben, wenn Sie keinen „Anschluss“ in diesem Sinn haben. Die Kaspar-Hauser-Experimente erzählen in grausamer Weise von der Richtigkeit dieser Beobachtung.

Ist dieser Anschluss unzureichend und nicht stabil, gibt es lebenslange Probleme. Das macht Menschen unglücklich. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Breite der Bindungsforschung von Bowlby bis Brisch.

Das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom (ADHS) ist kein Defizit der betroffenen Kinder. Die Vergabe des Medikaments Ritalin, das die Symptome des ADHS mindern soll, nahm in den vergangenen Jahrzehnten um über 1.000% zu. Was bei genauem Hinsehen zunahm, war die Intoleranz gegenüber schwierigen Kindern unter urbanen, hoch mobilen und leistungsorientierten Lebens- und Lernbedingungen. Zugenommen hat auch das Aufmerksamkeits-Defizit gegenüber Kindern. Kinder brauchen Zeit, Aufmerksamkeit und Augenkontakt. Erwachsene Betreuungs- und Bezugspersonen, die ständig weglaufen, mit den Gedanken und Blicken woanders sind, produzieren bei Kindern Stressstörungen. ADHS ist eine davon. Hilfreich können Großeltern sein. Sie haben oft das Charisma der Geduld, des Sitzenbleibens und der Langsamkeit.

Viele ADHS-Kinder haben eine Art posttraumatische Belastungsstörung aufgrund ungenügend sicherer Bindungserfahrungen. Dadurch entsteht eine „Hyperaufmerksamkeit“ in alle Richtungen. Sie sind vergleichbar mit scheuen Tieren auf einem weiten Feld oder in der Savanne, die von Fressfeinden bevölkert ist: Ständig auf der Hut, bei allem, mit schnell umherschweifenden Basketballblick, in Hab-Acht-Stellung zur frühzeitigen Wahrnehmung der Gefahr. Das ist das treffende Bild für ADHS-Kinder.

Treue in dieser Hinsicht ist eine Frage des Lebensglücks. Aufmerksamkeit in Kombination mit Dauer ist Treue und entstresst die Seele.

Weil aber auch Individuationsprozesse, das Lernen und sich Entwickeln, wer man oder frau eigentlich und wirklich ist, auch eine Frage des Lebensglücks ist, dürfen diese beiden Pole der Treue und Individuation nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wenn in Trennungsgeschichten Kinder die Erfahrung machen können, dass ihre Bindung zu beiden Elternteilen und den wichtigen Bezugspersonen stabil bleibt, dann wird die Trennung selbst eine Ressource für den weiteren Lebensweg der Kinder sein. Sie werden entdecken: persönliche Entwicklung ist wichtig und gut. Mut ist erforderlich und vorhanden. Ich darf und kann ein eigener Mensch sein.

Kinder mit geradem Rückgrat, stolz und glücklich, unkorrumpierbar und selbst fähig zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Menschen und der Welt! Das wäre gut. Wenn sie dies durch uns, die Eltern-  oder Großeltern-Generation, lernen könnten, könnten wir stolz auf uns sein.

Werden wir das Wort „Treue“ nicht in neuer Weise in einer nicht-moralisierenden Weise wiederentdecken, werden wir die Sehnsucht nach Bindung denen ausliefern, die unseren Kindern und der Welt schaden: den Nazis und Faschisten mit ihrem verlogenem Treue-Pathos, den Militaristen mit den Kameradschafts-Ideologien, den kriminellen Vereinigungen mit schädigenden peer-group-Bindungen, den Korps-Mentalitäten in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Letztlich werden unsere Kinder dann auch anfällig für alle Liebesbeziehungen, die in Bindungen enden, die ihre persönliche Entwicklung behindern, zum Beispiel indem sie zeitlebens unmündige Kinder bleiben wollen. Wir haben ihnen dies oft genug vorgelebt. Nun soll es bessere Wege geben. Wir wissen nur noch nicht, wo die Wege verlaufen und was wir beim Gehen an Gepäck brauchen. Aber wir werden uns darum kümmern: Kulturelles Lernen ist angesagt.

 

Eros

Der Eros liebt die Freiheit und befeuert die Befreiung. Er hat Kraft.

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.

Die moderne Hirnbiologie sagt es, die Psychotraumatologie sagt es, und der Volksmund sagt es auch: Wir handeln aus vertrauten und erlernten Gewohnheiten.

Warum tut ein Mensch dies oder jenes? Weil er es gelernt hat.

Warum tut ein Mensch nichts? Warum isst er nur Chips vor dem Fernseher? Warum ist ein Mensch einsam und zugleich internetsüchtig? Weil er es gelernt hat.

Warum ist ein Mensch lebenslang neugierig? Weil er es nicht verlernt hat.

Unser Gehirn ist sehr lernfähig.

Um gewohnte, also erlernte Denkbahnen, die Autobahnen der nervlichen Verknüpfungen in unserem Gehirn zu verändern, braucht es allerhand Kraft, Energie, Stimulation.

Was uns stimuliert, ist in der Regel:

·        Die Erfahrung, dass es Spaß macht und absolut hilfreich ist, Neues zu lernen. Das ist das Grundprinzip des Lernens der lebenswichtigen Fähigkeiten von Anfang an. Die Neugier ist im Kindesalter schier überlebenswichtig, damit das Neugeborene sich die Umwelt aneignen kann. Im Erwachsenenalter gilt dies immer noch in verwandelter Weise. Er bringt sehr viele extreme Lebensprobleme hervor, wenn dieser Antrieb der Neugier wegfällt: Erstarrung, Depression, Verwahrlosung können Erscheinungsformen davon sein.

·        Elementare Erfahrungen in der Natur, die von nicht nur momentaner Dauer sind: Zum Beispiel lange, anstrengende Bergwanderungen oder im Regen durchnässt zu werden, ohne dass eine Zuflucht in Sicht ist. Wind und Sonne den ganzen Tag, Sternenhimmel und Übernachtung ohne Camper, Zelt oder Hütte sind solche Erfahrungen, die uns mit den Urkräften der Natur und der Schöpfung verbinden.

·        Hunger, Durst, Angst, Anstrengung und deren Überwindung gehören auch dazu. Die moderne Glücksforschung betont, wie wichtig Anstrengung ist, und zwar  vor (!) der Belohnung, um das Glück in vollen Zügen in sich hineinfließen zu spüren.

·        Intensive Spiritualität, inklusive Krisen und Bekehrungserlebnissen. Sie bewirken nicht selten wirkliche, radikale Lebensveränderungen.

·        Lebendige Sexualität. Sie holt Menschen immer wieder aus eingefahrenen Lebensgleisen heraus.

·        Liebe, Verlieben und erotische Faszination. Sie verstärken sich gegenseitig, wenn sie Grenzen überschreiten und neue Lebensmöglichkeiten aufzeigen.

·        Nahtoderlebnisse. Sie lassen Menschen ihre innere Prioritätenliste radikal neu sortieren.

·        Traumatische Erfahrungen und deren gelungene Verarbeitung können die Erfahrung vermitteln, dass es zwar nicht gut, aber irgendwie sinnvoll ist, dass danach „nichts mehr so ist, wie es war.“

·        Die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt. Wer sich nicht fürchtet, auch in den nihilistischen Abgrund zu schauen, hat einen ungeheuer starken Impuls, die „Eigentlichkeit“ zu suchen und zu verwirklichen. Was will ich eigentlich und wirklich – jenseits aller Illusionen, die ich mir vormache oder von anderen vorgemacht bekomme?

Eros und Liebe haben Kraft. Sie stehen in der Gesellschaft anderer ganz elementarer Kräfte, die Revolutionen im Sinne von grundlegenden Umwälzungen, Umverteilungen, Uminterpretationen, Grenzüberschreitungen und Verhaltensänderungen im Leben bewirken können. Shakespeares Romeo und Julia und tausend Hollywood-Filme erzählen davon. Und das Faszinierende ist: Im alltäglichen Leben kann diese Erfahrung auch gemacht werden.

Weil Eros, Liebe und Verlieben diese Kraft zur Transzendierung von Grenzen haben, sind sie die idealen Verbündeten zur Überwindung auch innerer, seelischer Grenzen. Wer den Wunsch hat, sich zu verändern, ein anderer Mensch zu werden und sozusagen Individuationsprozesse in sich fördern will, verliebt sich schneller und lieber. Er tut sich mit innerem Wachstum leichter, wenn dies auf einen Zustand der erotischen Spannung und des Verliebtseins trifft. Nicht umsonst verlieben sich viele genau in solche Menschen, die Anteile ausleben und verwirklichen, die ihnen selbst fehlen. Solche Begegnungen sind spannend, energiereich und haben eine innere Ähnlichkeit zu religiösen Bekehrungserlebnissen.

Wenn aus so einer erotischen Beziehung eine dauerhafte Liebesbeziehung wird und die vermissten Anteile „integriert“ wurden, ist die alles entscheidende Frage, wie es nach diesem Lernschritt weitergeht:

Verliert sich die Energie, weil der Individuationsschritt vollzogen ist und daher die Beziehung uninteressanter und damit langweiliger wird?

Oder kann die positive Erfahrung des seelischen Lernens selbst wieder Quelle und Inspiration sein für weitere Lernschritte?

Mit demselben Partner oder derselben Partnerin?

Oder ist die Suche nach neuen Lernschritten mit neuen LernpartnerINNEn aussichtsreicher?

Das sind offene und zugleich entscheidende Fragen für jedes Paar. Sie scheinen so grundlegend, persönlich, wichtig und schwierig zugleich zu sein, dass hier auf die kollektive Kompetenz von kulturellem und vernetztem Lernen zurückgegriffen werden muss. Ein Paar allein schafft dies nicht. So scheint es jedenfalls zu sein, wenn die doch hohen Scheidungs- und Trennungszahlen in allen Ländern Mitteleuropas und Nordamerikas ernst genommen und mit dem Anspruch bzw. Bedürfnis nach Geborgenheit und Treue in Einklang gebracht werden sollen.  

Die andere Variante der Paare, nämlich solche, die sich einander sehr ähnlich sind, haben im Hinblick auf Treue und Geborgenheit anfangs einen Vorteil. Sie bieten mehr „Heimat“, nach der die Seele sich sehnt. Ihr geringeres Energiepotential lässt dann das Problem bzw. Projekt der Individuation bzw. Selbstwerdung nicht so drängend werden. Aber dafür taucht hier das Risiko auf, dass der Partner oder die Partnerin plötzlich ausbricht, weil der- oder diejenige „so nicht weiterleben will“ bis zum Tod, der eines Tages auf uns alle wartet. Die Endlichkeit macht die Frage nach dem eigentlichen Sinn so drängend.

 

Freiheit 

Freiheit wird ersehnt. Bestimmend aber ist die Angst vor der Freiheit.

In meiner Studienzeit kaufte ich gern gebrauchte Bücher im modernen Antiquariat. Dort waren sie billiger. Eines Tages streifte ich dazu durch die Marburger Altstadt, ging in ein unter Studenten beliebtes modernes Antiquariat mit gebrauchten Büchern und ließ meine Augen durch die Regale wandern.

Ein Buch fiel mir auf. Es war vollkommen eingeschwärzt an seinen Außenseiten: auf dem Einband hinten und vorn. Schwarze deckende Farbe auch auf dem Buchrücken. Sogar die einzelnen Seiten waren an den Außenkanten schwarz.

Das interessierte mich. Ich nahm das Buch heraus und blätterte es durch. Es war ein Werk von Erich Fromm, „Die Furcht vor der Freiheit“. Ich las das Buch in Auszügen und merkte bald, dass der philosophische Psychotherapeut Erich Fromm weniger eine Beschreibung der Furcht vor der Freiheit lieferte als vielmehr im Grunde einen Appell zum Mut zur Freiheit in Worte fasste. Es hatte etwas unbedingt Aufforderndes. Ich verstand dabei leicht, dass ein Vorbesitzer des Buches sich nicht dieser Aufforderung  ungeschützt aussetzten wollte. Das war dem Vorbesitzer doch zu viel der Zumutung zur Freiheit. Freiheit ist anstrengend. Es gibt eine Angst vor der Freiheit. Sie ist universal.

Genauso gibt es auch in Beziehungs- und Liebesangelegenheiten, auch in Fragen der Moral, der Ethik und des guten Anstands eine Angst vor der Freiheit. Lieber bleiben wir oft in den Bahnen und innerhalb der Gebote, die uns vorgegeben sind, als dass wir die Freiheit ausprobieren, die wir eigentlich haben. So tun wir das, was wir – auch in guter und ethischer Hinsicht – tun, nicht aus Gründen der Einsicht und der freien Überzeugung, sondern aus Gewohnheit und Angst. Ebenso unterlassen wir vieles einfach aus Angst und eben nicht aus freier Entscheidung.

Traurig machen mitunter die Paare, die zusammenbleiben, weil sie Angst vor der Freiheit haben. Sie fürchten auch die Schuldgefühle, die mit Befreiungsprozessen verbunden sind. Weniger die Liebe zum Partner ist es, die sie zusammenhält, obwohl sie es sich vielleicht wünschen. Sie glauben es dann vielleicht letztlich selbst, dass die Liebe sich in Furcht kleidet.

Wir suchen nach dem Mut, die Freiheit auf uns nehmen zu können.

Wir suchen auch nach dem Trost, um die Schuld, die der Gebrauch der Freiheit mit sich bringt, tragen zu können.

Weil aber Mut und Trost Mangelware sind, greifen Menschen zur Ersatzdroge „Liebeslüge“. Werden wir davon abhängig, tritt bald die Gewöhnung an den Stoff ein. Die Lebenslüge vernebelt die wachen intuitiven Sinne, setzt uns unter die Glasglocke des angepassten Lebens und lässt uns an unseren ungeweinten Tränen seelisch ertrinken. 

Doch Gott hat etwas anderes mit uns vor. Es könnte sein, dass unsere Aufmerksamkeit dafür geschwächt ist durch die Angst vor möglicher

 

Schuld

Ich habe Angst vor der Schuld. Ich sage das klar und deutlich. Wer mag, kann auch ehrlich werden.

Die Schuldproblematik ist das bestimmende Grundthema der jüdisch-christlichen Tradition. Auch für Nicht-Christen, Agnostiker, Atheisten und für alle Menschen, die im Traditionsfluss des antiken Nahen Ostens und des sogenannten christlichen Abendlandes stehen, ist dies bewusst oder unbewusst, ausgesprochen oder implizit ein Thema.

Schuld häuft an, wer nicht nach den Maßstäben der Gerechtigkeit lebt. Aber „der Gerechte wird leben“, wie es programmatisch das sogenannte Alte Testament, Paulus und Martin Luther betonen.

„Gerechtigkeit“ in den verschiedenen Schichten der biblischen Überlieferung hat immer etwas mit Gemeinschaft zu tun. „Gemeinschaftstreue“ oder „Solidarität“ könnte eine gute Übersetzung sein.

Der Hebräerbrief im Neuen Testament antwortet auf die Schuldproblematik aufgrund fehlender Gerechtigkeit, indem er das alte Bild des Sündenbocks aufnimmt: Im alten Israel wurde einmal im Jahr die gesamte Schuld des Volkes kultisch-magisch auf den „Sündenbock“ auf einen Widder, übertragen. Und der wurde dann buchstäblich „in die Wüste geschickt“. Dort starb er. Und die Schuld starb mit ihm – so das magisch-kultische Denken der damaligen Welt.

Im Rahmen dieser kultisch und magisch geprägten Bilderwelt hält der Hebräerbrief fest: Jesus ist das einzige, letzte und letztgültige Opfer. Punkt. Mit anderen Worten. Es gibt keinen Grund mehr für Schuldgefühle, weil die Schuld durch Jesus und seinen Tod aus der Welt geschafft wurde. Ohne Ausnahme. Darum geht unsere Energie jetzt nicht mehr zur Schuld, sondern zu den guten Möglichkeiten der individuellen und gemeinsamen Lebensgestaltung.

Unser modernes Konzept, sich selbst zu verstehen, kennt nicht automatisch einen persönlichen Gott, vor dem man sich rechtfertigen muss. Der Gedanke Gottes und die Vorstellung eines metaphysischen Endgerichts über unser Leben sind weitgehend  verschwunden. Wir leben in einer sich säkular verstehenden Welt.

Aber Schuldgefühle sind trotzdem noch da! Was tun?

Schuldgefühle sind sehr lebendig. Obwohl Gott, der letztgültige Richter, tot sein soll, fühlen wir so, als ob er auf uns warte.

Mein Vorschlag im Angesicht der Lebendigkeit von Schuldgefühlen trotz des vermeintlichen „Tod Gottes“, der als Richter über Schuld und Freiheit befindet, wäre:

  • Wir tun so, als ob Gott lebte und der bestimmende Bezugspunkt des Denkens und Fühlens aller Menschen wäre.
  • Zugleich versuchen wir, dort hinein zu sprechen, was Gottes Gnade und Vergebung bedeutet bzw. bedeuten kann. Nämlich: „Du bist frei. Lebe und liebe als Befreite/r!“
  • Dann schauen wir, wie es denen geht, die zugehört haben. Ich vermute, es geht ihnen besser.
  • Zuletzt öffnen wir uns für ein Gewissens-Experiment: Vielleicht helfen unsere Schuldgefühle in einem zweiten Anlauf, das eine oder andere von uns und von dieser Welt besser zu verstehen. Das bessere Verstehen könnte dann zu einem Handeln führen, das den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen angemessener ist.

Nach evangelischem Verständnis, das sich in besonderer Weise auf Paulus beruft, wenn es um Schuld und Rechtfertigung geht, hat der Mensch schlechthin das Bedürfnis, sich permanent selbst zu rechtfertigen. Er will sich unablässig erklären, dass das, was er tut moralisch und sozusagen vor Gott richtig und gut ist. Er rechtfertigt sich selbst. Er klopft sich unablässig auf die eigenen Schultern. Er will, dass andere und Gott selbst gut heißen und bestätigen, was er tut und ist. Aber die Bestätigung bleibt aus, von den anderen meistens, von Gott immer. Selbstrechtfertigungen funktionieren nicht, besonders bei Gott nicht.

Dazu bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als mit diesem Spiel aufzuhören. Er muss sich sozusagen ergeben.

In einem Zustand existentieller und ethischer Passivität wird der Mensch von Gott gerechtfertigt. Gott selbst – nicht der Mensch – klopft dem Menschen auf die Schulter aus vollkommen freiem Antrieb, ohne Berechnung, aus Liebe. Und dem Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich das gefallen zu lassen. Jede Form der menschlichen Aktivität im Empfang der Gnade lässt das alte Spiel von Neuem beginnen. Im Empfang der Gnade und Vergebung ist der Mensch ganz und gar passiv, damit er dann aktiv und frei sein Leben gestalten kann in Verantwortung und Liebe und ohne Schuldgefühle.

In diesem Sinn haben Schuldgefühle und Schuldzuweisungen, weder an sich selbst noch an andere, irgendeinen hilfreichen Sinn. Das neue Leben beginnt frei.

Noch einmal: Das wahre Leben, der echte Glaube, die gelingende Liebe kennt keinen Zwang, auch keine Aufforderung, die einer irgendwie gearteten Schuld entspringt.

 

Endlichkeit

Christoph Schlingensief spricht mir mit seinem Tagebuch einer Krebserkrankung, das 2009 in Köln erschienen ist, aus dem Herzen: „So schön wie hier kann´s im Himmel gar nicht sein!“.

Ich sterbe nicht gern. Ich werde auch nicht gern älter. Ich habe, ehrlich gesagt, Angst vor dem Tod und der Endlichkeit schlechthin.

Wir leben hier auf dieser Erde nicht ewig. Ob wir danach weiterleben, ist nicht sicher. Hoffnung über den Tod hinaus gibt es nur als existentiellen Akt der trotzigen Revolte oder als Geschenk des Glaubens. Niemand war wirklich auf der anderen Seite, ist zurückgekommen und hat uns berichtet. Auch die Nahtod-Erlebnisse, die in jüngster Zeit häufiger diskutiert werden, ändern daran nichts, weil sie – wie der Name es sagt – Erlebnisse sind in der Nähe des Todes aber nicht im Tod selbst. Trotzdem sind sie oft sehr eindrücklich, häufig schön und daher sehr wichtig für das weitere Sortieren von Wichtig und Unwichtig, Wesentlich und Unwesentlich im Leben.

Das Leben ist immer zu kurz. Die Potenzialität, die Möglichkeiten unseres Lebens, unserer Persönlichkeit, der Erfahrungen und Entwicklungen übersteigen immer die Aktualität. Wir aktualisieren, verwirklichen immer weniger, als wir eigentlich könnten. Leben heißt, sich im Defizit einrichten müssen.

Wir haben auch nicht die Möglichkeit, alle eventuell möglichen Partner und Partnerinnen, die Lebensformen und die Umstände des Lebens auszuprobieren, bis wir wissen, was wir eigentlich wollen oder brauchen. Die Sehnsucht ist immer ein Ausstrecken auf ein Noch-Nicht.

Ein Leben und ein Lieben auf Probe gibt es nicht, weil, wenn es „nur“ probiert wird, ist es nicht echt. Wir werden auch nicht die Möglichkeiten haben, öfter als einmal im Leben zu erfahren, wie es ist, mit einem Menschen gemeinsam alt zu werden und dabei alle Lebensphasen vom jungen Erwachsensein bis ins Greisenalter zu teilen. Wenn wir es einmal erlebt haben, sind wir schon alt. Und eine Beziehung, die im Alter neu begonnen wird, ist eine ganz andere als eine Jugendliebe, die ein Leben lang währt.

Eigentlich einleuchtend! Man macht es sich nur zu selten bewusst, wie einmalig das Leben in seinen Grundentscheidungen ist.

Wir haben gar nicht die Lebenszeit, viele Partnerschaft auszuprobieren und nie (!) die Möglichkeit, noch einmal von vorn anzufangen. Jeder Neubeginn ist gar nicht neu, sondern ereignet sich immer auf der Basis des zuvor Erlebten. Die Zeit geht immer vorwärts, nie rückwärts und nie in Schleifen.

Es ist darum ein Akt der Weisheit, jedes „Ja“ zu einer festen Beziehung als unbedingtes und unbegrenztes Treueversprechen zu verstehen.

Zugleich haben wir Angst davor, älter zu werden. Der Horizont dieses Prozesses ist der Tod, den wir aus Angst meist fliehen, verdrängen und verleugnen. Für kurze Zeiten und bestimmte Lebensphasen gelingt es uns auch, diese unumstößliche Tatsache, dass unsere Tage begrenzt sind, zu vergessen.

In dieser Gemengelage ist es geradezu verständlich, wenn wir versuchen, mit zwei entgegengesetzten Tricks die Wahrnehmung dieser existentiellen Grundgegebenheit zu vermeiden.

  • Entweder wir verlieben uns stets neu, gehen immer wieder neue Beziehungen ein, leugnen durch das Aufrechterhalten dieses „jungen“ Gefühls einerseits das faktische Älterwerden und verhindern andererseits die Erfahrung echter, reifender Beziehung. Wir verpassen also genau das, wonach wir im Akt der Liebe suchen.
  • Oder wir geben uns dem romantischen Liebesgefühl hin, verlängern es über die reale Stimmung hinaus, indem wir unabhängig von unseren wirklichen Gefühlen unablässig behaupten: „Die Liebe ist stärker als der Tod.“ Dann kann es leicht sein, dass der Wunsch über die Wirklichkeit siegt. Illusionen können gefährlich sein. Desillusionierungen aber auch …

Lebensgefährlich kann es sogar werden, wenn dieser Mechanismus verstanden wird und zugleich vermieden werden soll. Wenn wir vom romantischen Liebesgefühl, das den Tod nicht fürchtet bzw. ihn verwandelt, Abschied nehmen müssen aber nicht wollen. Dann wird plötzlich der Suizid attraktiv. Er könnte als Versuch interpretiert werden, die Liebe in und durch den Tod zu retten.

Leider ist diese Gefahr keine Phantasie sondern auch eine Realität, die im seelsorgerlichen Kontext auftaucht. Aufklärung über unsere Gefühlslage und ihre Struktur kann Leben retten.

Die Antwort, mit der Endlichkeit gut umgehen zu können und die Liebe auch im Älterwerden in ihrer je eigenen Ausprägung in den verschiedenen Lebensphasen anzunehmen, ist der ungegenständliche Mut, der die Abgründe des Todes greift, ohne in sie hineinzufallen. Dieser Mut hat etwas existentialistisch Trotziges. Er rechnet damit, dass die Hoffnung, dass es gut ausgeht mit uns, recht behält. Trotz alledem!

Und jetzt wagen wir die Kombination von Ehrlichkeit und Liebe erst recht! Liebe ereignet sich bewusst oder unbewusst, verstanden oder verborgen im Vorschein der Auferstehung. Große Worte, ja, aber ich denke, so ist es.

 

Sünde

Das Wort „Sünde“ gefällt mir. Es ist so herrlich verstörend missverständlich. Ich habe keine Angst vor der Sünde. Angst ist die Sünde.

Ob das alte und missbrauchte Wort „Sünde“ Verwendung findet oder nicht. Der Entschluss zur Trennung ist, wie schon gesagt, stets mit den Fragen von Schuld und der Erfahrung von Schuldgefühlen verbunden. Traditionell wurde dieser Schritt häufig mit dem Wort „Sünde“ in Verbindung gebracht. Dies hat sich kulturell gleichsam als Sediment abgelagert und schwingt darum gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst immer mit, wenn wir von Trennung reden oder sie vollziehen.

Oft geht damit die Einstellung einher, dass Theologie, Glaube, Kirche die moralische Verurteilung von Trennungen „qua Amt“ betreiben muss. Weit gefehlt!

„Die Kirche darf doch den moralisch Aufrichtigen nicht in den Rücken fallen!“

Das tut sie auch nicht. Sie macht ja durch die Botschaft der unbedingten Gnade allen (!) Sündern Mut. Mir auch.

„Sünde“ ist kein moralischer sondern ein trans-moralischer Begriff. Nach einhelliger theologischer Überzeugung – zumindest in evangelischer Interpretation – gibt es keine Möglichkeit, „Sünde“ zu tun oder nicht zu tun. „Sünde“ ist eine Beschreibung unserer Existenz schlechthin. Sie ist ein „Existenzial“ im Sinne Martin Heideggers. Andere Existenziale sind die Zeit bzw. Zeitlichkeit, Endlichkeit, „Geworfenheit“ ins Dasein und Freiheit. Das will sagen, dass jeder Mensch in und mit der Zeit und den anderen Existenzialien lebt. Zeit ist eine Grundkategorie menschlichen Seins. Sünde auch. Sie beschreibt einen Zustand der Entfremdung von dem, woher wir kommen und was wir in unserem allerinnersten Seinskern sind, bzw. wozu wir berufen sind.

„Sünde“ könnte mit Alltagsworten etwa so beschrieben werden:

Unser Leben ist krumm und schief und undicht wie ein Sieb. Wenn wir versuchen, die Schiefheiten zu richten, wird es noch krummer und verliert auf seltsame Weise noch mehr Wasser. Zugleich gibt es keine Alternative dazu.

Wir wollen aber, dass wir uns selber sicher sind, dass wir wissen, was richtig und was falsch ist. Wir haben Sehnsucht nach Klarheit und Eindeutigkeit, damit wir Geborgenheit in uns wahrnehmen.

Die Spannung, die dann zwischen Uneindeutigkeit und ersehnter Klarheit entsteht, nehmen wir als Angst wahr. Mit Gewalt wollen wir die Spannung ausgleichen und schaden uns und anderen bei diesem Versuch.

Angst ist sozusagen die Grundsünde unseres Lebens. Das Gegenteil von dieser Angst ist der Lebensmut, das „Vertrauen trotzdem“.

So entpuppt sich unter Umständen das Paradoxon, dass diejenigen, die Trennung als Sünde klassifizieren, selbst von Sünde betroffen sind, gerade weil sie aus Angst vor dem Unsicheren, den Mut zum Leben klein machen und das Leben selbst verpassen.

Sünde kann nicht vermieden werden. Sie wird vergeben und das „Große Trotzdem“ im Leben gesucht. So werden die Vorraussetzungen geschaffen, dass „versöhntes Leben trotz alledem“ entsteht.

„Sünde“ ist ein mutiger, reifer und existenzialistischer Begriff für erwachsen werdende Menschen.

Die Angst als Grundgefühl des Lebens äußert sich unter anderem jeweils als Angst vor dem Tod, vor der Schuld, vor dem Schicksal, vor Schmerz, vor Einsamkeit, vor Verlust der Ehre, vor Sinnlosigkeit. Die Äußerungen der Angst konkretisieren sich dann im Alltag als Furcht vor bestimmten Dingen oder Zuständen. Sie lädt sich in der Regel mit Energie auf, die weit über die Grenzen geht, die der jeweilige Anlass hergibt.

Für das Projekt „Individuation“ brauchen Menschen Mut, um ihre Angst zu überwinden. Dieser Mut kann zum Beispiel aus dem Glauben wachsen, dass Gott für jeden Menschen ein sinnvolles Leben vorgesehen hat, auf seine Geschöpfe ewiges Leben wartet, das jetzt schon beginnt oder dass Gottes Vergebung von jedem in Anspruch genommen werden kann, so dass daraus neue Lebensperspektiven erwachsen können.

Angst ist der Feind. Er kann besiegt werden, indem wir uns mit der Angst befreunden.

Wurde der Mut zur selbst verantworteten Trennung gefunden und konnte ein Trennungsweg in Frieden und unter Wahrung der legitimen und meist seelischen Interessen der eventuell vorhandenen Kinder gefunden werden, ist Mut immer noch vonnöten. Es gilt den weiteren Lebens- und Beziehungsweg fortlaufend mutig zu gestalten, weil Selbstverständlichkeiten abhanden kommen können. Es müssen nicht zuletzt Freundeskreise neu geordnet, geklärt oder gefunden werden. Es kommt viel in Fluss durch eine Trennung, was lebendige, aufmerksame, versöhnte und erwachsene Gestaltung verlangt.

 

Werden

und die heilige Selbstwerdung, die Individuation „im Auftrag des Herrn“.

Seit Jahrtausenden lesen Menschen den Anfang der Bibel. Juden beginnen sie von rechts, sozusagen von hinten zu lesen.

Auf Hebräisch lasen sie ursprünglich, was in etwa so geklungen haben könnte:

Bereschit bara elohim et haschamajim we’et ha’arez …

Übertragen werden könnten diese Worte ungefähr so:

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, ein einziges Chaos, ein „Tohuwabohu“, lebensfeindlich und fremd.

Dann ordnete Gott das Chaos, schuf Struktur und hauchte aller Materie Leben liebend ein. Allem gab er seinen Platz: dem Hellen und dem Finsteren, dem Tag und der Nacht, den Zeiten und Gestirnen, dem Oben und dem Unten, dem Wasser und dem Land, den Pflanzen und den Tieren. Sie wachsen und gedeihen je nach eignen Regeln und Prozessen.

Auch schuf er den Menschen - nicht als Einzelgänger, sondern als ein polares und soziales Wesen. Er ist trotz allem Leiden an den Mitmenschen und Ungerechtigkeiten auf der Welt auch zur glückenden Liebe fähig.

In der Schöpfung gestaltet er mit Gott die Welt und begitb sich auf Gotts Geheiß in den Prozess.

Es hat, so kann die biblische Schöpfungstheologie zusammengefasst werden, Gott gefallen, dass alles, was ist, ein Werden ist. Nichts fällt fertig vom Himmel. Unser eigentliches Sein liegt in der Zukunft, ist im Werden, ist Prozess und Wachstum. Dies kann auch in einer nicht-religiösen Sprache gesagt werden und ist zugleich Grundelement westlicher, aufgeklärter Weltsicht: Das lineare im Gegensatz zum zyklischen, östlich geprägten Weltbild.

Mit dem Auf-dem-Weg-Sein, dem Werden, dem Prozesshaften hat der Mensch, haben wir alle ein Problem: Der Mensch sehnt sich nach Klarheit und Geradlinigkeit. Zugleich sind unsere Lebenswege krumm und schief. Der Verfasser schließt sich hier ausdrücklich mit ein. Nur noch nicht gereifte Persönlichkeiten sind der Ansicht, hier nicht zustimmen zu können und verneinen bewusst die Solidarität aller Menschen im Hinblick auf Lernbedürftigkeit.

Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und die gleichzeitige Unfertigkeit aller Menschen erzeugt Krisen. Wenn die Spannung zu groß wird, werden Auswege gesucht und Dualismen oder Fundamentalismen gefunden. Es stützt und stabilisiert die Seele kurzfristig, wenn ihr von Außen gesagt wird, was gut und richtig, gläubig und ungläubig, gottgefällig und gottlos, rechts und links, oben und unten ist.

Kurzfristige Erfolge beim Stabilisieren seelischer Zustände können mit einem Korsett erzielt werden: Manchmal sind äußere Stützen nötig, um innere Schäden oder Kraftlosigkeiten ausgleichen zu können. Ziel ist und bleibt aber die Stabilität aus eigenen, inneren Kräften. Darauf bezieht sich der Glaube. Kraft und Klarheit von Innen statt Korsett von Außen!

Auf Dauer wirkt sich ein fundamentalistisches Korsett für Menschen und für das Leben hinderlich, schädlich oder gewalttätig aus, so entlastend und verständlich sie auch für kurze Zeiten sein können. Individuelle Lebenswege, die Religionsgeschichte und politische Entwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart bringen unzählige Beispiele dafür hervor. Leider.

Doch wer auf dem Weg ist, macht Umwege. Es gehört zum Leben und Lieben. Es bleibt dabei: Wir sind Lernende.

In dieser Situation brauchen wir das Bewusstsein und die Lebenshaltung der Gnade, der Vergebung und Versöhnung, die aus der unbedingten Annahme dessen, was ist, wächst. Ob wir diese Lebenshaltung religiös begründen und mit Gottes vorbehaltloser Liebe und Vergebung in Zusammenhang bringen oder wir aus dem Urgrund des Seins heraus diese Annahme annehmen, ist zweitrangig. Es kommt darauf an, dass wir uns trauen, immer und immer wieder neu anzufangen, ohne uns selbst und einander aufzugeben.

Gott sprach, als er seine Schöpfungswerke ansah: „Siehe, es war sehr gut.“

Die Prozesse des Werdens sind gut, sie sind von Gott gewollt.

Wir können es auch a-religiös aussprechen: Es ist sinnvoll und dem Leben angemessen, von der prinzipiellen Güte des Unfertigen auszugehen, damit das Gute und Bessere wachsen kann. Eine Arbeitshypothese ist dies. Ja. Und zugleich ist sie hilfreich und zielführend, ein Postulat der praktischen und reifen Vernunft. Sie hat Lust am Guten und am Besseren. Sie kann so oder auch nur so ähnlich in Worte gefasst werden. Letztlich sucht sie eine je persönliche Sprache für den je persönlichen Lebensweg.

Wir pendeln wieder zurück zum religiösen Ausdruck und schließen: Unser Weg in Gottes Namen ist der der versöhnten und reifen Annahme, die auch zu den eigenen Schattenseiten steht. Gerade darin entdecken wir die Liebe, die Gott und Menschen verbindet. Durch die Taufe sind wir befreit von Schuld, befreit zu einem Leben, das Gottes Willen und unserem eigentlichen Wesen entspricht, weil uns alles Wesentliche und Wichtige geschenkt wurde: das Leben, Gottes Liebe, seine Vergebung und Versöhnung und das ewige Leben, das jetzt schon beginnt. Darum brauchen wir eigentlich keine Angst mehr haben. Wer frei von Angst ist, der kann lieben und wachsen. Und genau darum nennt Paulus die Liebe das Wichtigste und Größte.

Wenn Gott die Liebe ist und wenn Gott von Anbeginn an den Prozess und das Wachsen in seine Schöpfung gelegt hat, dann dauert genau dies auch noch an. Die theologische Tradition nennt dies „creatio continua“, die fortwährende Schöpfung. Diese Prozesskraft hat die gleiche Kraft wie das Schöpfungswerk Gottes am Anfang von Sein, Zeit und Tat.

Prozess und Wachstum können von daher nur in enger Verbindung mit der Liebe gedacht und gelebt werden.

Wir wechseln wieder in nicht-religiöse, philosophische Sprache und halten fest: Die Kraft im  Prozess hin zu dem Individuellen und Persönlichen, hin zur Individuation, ist nicht nur eine Angelegenheit der Individualpsychologie sondern der Ontologie und in dieser Reihenfolge auch der Ethik. Alles Sein ist im Werden – und wir mittendrin als liebende Wesen. Kein Sollen kann dies relativieren, ohne das Werden, uns selbst oder andere zu beschädigen.

Der christliche Glaube, indem er zudem die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes entfaltet hat, hält zwei Dinge fest: Alles hat gut begonnen. Alles wird gut enden. Gott selbst sorgt dafür, weil er Schöpfer, Erlöser und Vollender zugleich ist. Zwischen dem guten Anfang und dem guten Ende findet das Abenteuer unseres individuellen und kollektiven Lebens statt. Das Lieben ist ein wesentlicher Bestandteil davon. Alle Positionen, die dies unklar machen, bleiben hinter dem christlichen Grundbekenntnis zurück, mögen sie auch noch so fromm oder rechtgläubig klingen.

Hier finden rationale, nicht-religiöse Begründungszusammenhänge eine natürliche Grenze. Es handelt sich darum auch um ein Bekenntnis, das aus sich selbst heraus evident ist oder auch nicht. Der Glaubende wird dann sagen, dass dafür der Heilige Geist höchstpersönlich zuständig ist. Die Theologie spricht dann vom Glauben als „Werk“ des Heiligen Geistes. Die evangelische Theologie legt besonderen Wert darauf, dass dies nicht mit dem „Werk“, den Möglichkeiten des Menschen verwechselt wird. Dies wäre nach ihrer Ansicht dann „Werkgerechtigkeit“. Und die fanden die evangelischen Reformatoren wie Martin Luther besonders ablehnungswürdig. Ich schließe mich ihnen an.

In nicht-religiöser Sprache kann also zusammengefasst werden: Die Individuation ist eine unbedingte Kraft, der alles andere automatisch nachgeordnet wird. Liebe wird als Teil der Individuation interpretiert. Sie wird auch als Element der Individuation gelebt werden müssen, wenn sie echt sein soll. Liebe kann darum niemals ein Argument gegen Individuationsprozesse sein.

Alles wird darum darauf ankommen, wie Individuation, Persönlichkeitsentwicklung und Freiheit in einer Liebe, Partnerschaft und Ehe gelebt werden kann, wenn sie diese nicht sprengen soll.

Nicht nur die Psychotraumatologie, sondern auch die Individualpsychologie und die unmittelbare Lebenserfahrung zeigen uns, dass „Anschluss“, Verbundenheit, Nähe, Kontakt und Austausch ebenso Grundkonstanten des Menschseins sind wie die Individuation. Kein Kind kommt auf die Welt und ins Leben ohne intensive Nähe von Menschen! Offenbar ist das menschliche Leben auf zwei Pole hin zentriert: Anschluss und Individuation. Es scheint, dass gleichsam wie bei einer Ellipse kein Pol dabei entfallen darf. Dies individuell und kulturell im Hinblick auf Partnerschaft zu lernen, ist die Aufgabe, an die wir uns unter dem Vorzeichen der Freiheit neu heranmachen. Es gibt hier viel zu tun.

Individuation hat Kraft. Sie wird jeden Rahmen der willkürlichen Unfreiheit sprengen, auch den der Liebe, mag sie noch so stark ethisch gewollt sein. Die Individuation ist heilig. Sie beansprucht, ein Tabu zu sein. Wird es verletzt, richtet sich ihre Kraft gegen die, die den Tabubereich überschreiten.

In polarer Entsprechung gilt dann auch: Die Individuation, die der Liebe widerspricht, entzieht sich selbst den Boden. Dies merkt man aber nicht sofort.

Trotzdem bleibt es dabei: Das gelingende Leben braucht beide Pole: Individuation und Liebe. Gott segnet diese Polarität.

 

Wirklichkeit

Große Worte treffen auf Wirklichkeit. Ändert sich die Wirklichkeit dabei nicht, waren sie eine hohle Ideologie.

Große Worte treffen auf Wirklichkeit. Verschwindet die Wirklichkeit dahinter, waren sie eine repressive Ideologie.

Große Worte treffen auf Wirklichkeit. Neue Perspektiven machen Hoffnung. Hier ist Segen. Er ist unverfügbar. Ich bin froh, wenn er sich ereignet.

Wirklichkeit wahrnehmen im Hinblick auf Liebe und Partnerschaft, heißt auch, klar wahrzunehmen, dass Kinder das Leben einschneidend verändern.

 

Kinder

Kinder brauchen Stabilität.

Liebeskummer tut weh.

Trennung oft auch.

Diese Schmerzen sind so seltsam schön und furchtbar schmerzlich zugleich. Rock- und Pop-Songs, Romane und Hollywood-Filme beschreiben, erzählen, inszenieren dies und verdienen daran – oft zu Recht.

Wir spüren uns dann, erfahren Lebensintensität und manchmal machen wir uns auch zum Affen.

Doch wirklich ernst wird es, wenn Kinder von Trennungen mit betroffen sind. Hier sind alle erwachsenen Anteile der Eltern und verantwortungsvoll Beteiligten gefordert, weil Kinder auf grundlegende Stabilität der sie umgebenden Beziehungen angewiesen sind.

Die moderne Bindungsforschung, die Psychotraumatologie und die damit verbundenen Forschungen zur Epigenetik, die u.a. die Auswirkung von Stressfaktoren und –hormonen wie Cortisol auf die Reproduktion und Veränderung von Genen untersuchen, halten unmissverständlich fest:

Kinder brauchen zu einer guten Entwicklung unbedingt

-         vor der Geburt die Freiheit von Stress, Angst, Umweltgiften und Suchtstoffen,

-         ab der Geburt Körper- und Augenkontakt, Freundlichkeit, Wertschätzung, Aufmerksamkeit, Nahrung und Pflege,

-         in der weiteren Entwicklung ebenfalls Stressfreiheit und stabile, liebevolle Kontakte sowie die Möglichkeit, „Selbstwirksamkeit“ zu erfahren.

Dabei bedeutet „Selbstwirksamkeit“ die Erfahrung, dass Menschen, insbesondere Kinder, etwas „bewirken“ können, Subjekt und nicht Objekt von Ereignissen sind und somit eine gute, konstruktive und lebensdienliche Macht über sich selbst und die sie umgebenden Situationen haben. Selbstwirksamkeit und Neugier sind ein Geschwisterpaar und absolut gesund und wichtig für die Entwicklung eines Kindes und die Herausbildung von Frustrationstoleranz und Problemlösungskompetenz sowie die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen. Selbstwirksamkeit ist einer der wichtigsten Resilienzfaktoren.

Resilienz ist wiederum die Fähigkeit, aus Krisen, Niederlagen und Fehlern lernen zu können und nach einer gewissen Zeit der Verunsicherung wieder in sein seelisches, emotionales und kognitives Gleichgewicht zu kommen.

Typische Beispiele für Resilienz bzw. resiliente Systeme sind

-         ein junger, biegsamer Baum, der im Sturm nicht bricht, sondern nach den Windattacken sich wieder aufrichtet und weiter wächst,

-         ein Steh-Auf-Männchen, das beim Spiel aus dem Gleichgewicht gebracht wird, aber spielerisch und wippend wieder gerade aufsteht,

-         ein Lot, das automatisch in die Senkrechte kommt, wenn es ausgeschwungen hat, und so den rechten Winkel zum waagerechten Boden anzeigt,

-         eine Schaukel.

Die moderne Bindungs- und Resilienzforschung in Verbindung mit der Psychotraumatologie legt nahe, dass Kinder das „Dass“ der verlässlichen Bindung benötigen. Die Form oder die Struktur, in der diese Bindung stattfindet,  ist dagegen zweitrangig. Dies belegt letztlich auch die vergleichende Kulturanthropologie, die sehr unterschiedliche Muster des Zusammenlebens der Menschen auf der ganzen Welt beschreibt. Das Verbindende ist allerdings die Beobachtung, dass Kinder verlässliche und fürsorgende Beziehungen benötigen, um gut in das Leben starten zu können.

Und genau hier ist unser kulturelles Lernen in Beziehungsdingen außerordentlich gefragt. Hier liegen die Defizite unserer Kultur in Liebes- und Beziehungsdingen.

Die größten gegenwärtigen Probleme sind:

-         Kinder erfahren Unsicherheiten und unsichere Bindungen in Ehen, Familien und Partnerschaften. Die monogame, bürgerliche Ehe ist kein Garant dafür, dass Kinder die Aufmerksamkeit und Wertschätzung erhalten, die sie benötigen, um Bindungssicherheit und Selbstwirksamkeit erfahren sowie Resilienz entwickeln zu können. Die Beschleunigung unserer Lebensprozesse überfordert uns und unsere Kinder.

-         Kinder erfahren erst recht Unsicherheiten und zerbrechende Bindungen, wenn ein Paar, das Kinder hat, sich trennt. Dabei werden Kinder nicht selten mit Hineingenommen in den Rosen- und Beziehungskrieg, weil noch viel zu selten eine erwachsene, reife Kompetenz in Scheidungsangelegenheiten bei Paaren vorhanden ist. Die Elternrolle und die Partnerschaft wird nicht genügend differenziert und auseinandergehalten. Dramen spielen sich auf diesem Gebiet ab. Die Hauptleidtragenden sind meist die Kinder, weil es nicht genügend Beziehungskompetenz gibt, um Kindern ein Nest oder gute Startbedingungen zu bieten, auch wenn ein Paar auseinandergeht. Kulturelles Lernen ist angesagt und notwendig. Gelingende Vorbilder in diesem Lernprozess sind selten.

Wirklichkeit wahrnehmen im Hinblick auf Liebe und Partnerschaft, das heißt auch, ideologiefrei wahrzunehmen, dass mit einer Eheschließung die statistische Wahrscheinlichkeit wächst, Gewalt zu erleben oder gar ermordet zu werden. Gewalt in Beziehungen ist Wirklichkeit. Sexualisierte Gewalt an Kindern in Familien ist Wirklichkeit.

Wir sehen der Wirklichkeit in die Augen und nehmen das Thema Gewalt weiter unten wieder auf.

 

Eltern

Partnerschaft trifft auf Elternschaft. Das Abenteuer der Wirklichkeit gewinnt an Fahrt.

In unserem Kulturkreis war legitime Kindschaft stets an eine legitim geschlossene Ehe gebunden. Auf der einen Seite hatte und hat dies normative Kraft, die sich gleichsam als kulturelles Sediment abgelagert hat. Auf der anderen Seite gab es schlichtweg viele Kinder – und damit auch häufige Elternschaft ohne den strukturellen Rahmen einer Ehe der Eltern. Die Kleinfamilie als breit gelebtes Modell ist ja ein Phänomen des 20. Jahrhunderts.

Im Moment verflüchtigt es sich wieder. Single-Haushalte nehmen zu. Gerade bei jungen Erwachsenen! Die Anforderungen der Bildung und des Beruflebens, der Mobilität in geografischer Hinsicht sowie der Alltagsorganisation erlauben es nicht, die biologische Lebensphase der unkomplizierten Fruchtbarkeit und Leistungsfähigkeit mit der Lebensplanung zu synchronisieren. Abhilfe wird gesucht und gefunden: Adoption, In-Vitro-Fertilisation, Kinderwunschbehandlungen und Leihmutterschaft. Nicht alles ist unproblematisch, nicht alles ist legal. Manches, wie Adoption und die Übernahme von Pflegschaften wären aber auch manches Mal ethisch geboten. Hier ist viel im Fluss. Die Frage bleibt, wie sehr wir uns und unsere biologische Reproduktivität dem kapitalistischen Arbeits- und Lebensstil anpassen wollen.

Aber wie Elternschaft auch immer zustande kommt: Wenn Kinder da sind, brauchen sie Anschluss, Geborgenheit, Zeit, Wertschätzung und Stabilität. Punkt.

Werden Lebensformen und Partnerschaften flexibler gestaltet, müssen sich die Inseln der Stabilität von Lebensformen und Partnerschaften abkoppeln. Das ist leicht gesagt. In Wirklichkeit ist es ein schweres und schwieriges Projekt:

Elemente dieses Projekts müssen meines Erachtens sein:

Die Entkoppelung von Partnerschaft und Elternschaft: Wenn Eltern sich als Partner trennen, müssen sie doch um der Kinder willen Eltern bleiben. Das erfordert persönliche Reife, Konflikt- und Friedensfähigkeit gleichermaßen und erhebliches Organisationsgeschick.

Die Stabilisierung kindlicher Erfahrungs- und Lernwelten: Kinder brauchen schlichtweg Fixpunkte verlässlicher Beziehung. Dazu gehört auch das Lebensumfeld wie Freunde, Kindergarten, Schule, Vereine und verantwortliche Bezugspersonen. Bindungsabbrüche können traumatisieren. Die Kernfrage lautet: Wie können in einer hochmobilen Welt Beziehungsoasen stabil gehalten werden?

In dieser Frage liegen große persönliche, finanzielle und politische Herausforderungen. Sie anzupacken wird unser Leben sehr verändern.

 

Gewalt

macht kalt und krank. Sie ist eine absolute Grenze in jeder Beziehung.

Körperliche Gewalt und extreme Formen psychischer Gewalt sind das absolute „no go“ einer Beziehung. Vieles kann krisenhafte Wege gehen in der Liebe, in der Partnerschaft und Ehe. Aus Krisen können Chancen und Lernerfahrungen werden. Der Weg der Gewalt ist ausgeschlossen. Er führt zur Zerstörung. Hier hilft nur Trennung. Das gilt auch dann, wenn Partner zu Zeugen der Gewalt – etwa an den Kindern werden.

Gewalt macht kalt und krank. Opfer müssen sich selbst schützen. Wer sich nicht selbst schützen kann, braucht andere, die für den Schutz sorgen.

Die glasklare Botschaft lautet: Raus aus dem Gewaltsystem!

Dass viele Frauen, die für sich und oft auch für ihre Kinder Zuflucht in einem Frauenhaus finden, wieder zurückgehen in den Haushalt und zu dem Mann, der sie schlägt, hat nichts mit Liebe zu tun. Es ist eine typische Reaktion traumatisierter Menschen. Die „Identifikation mit dem Aggressor“, eine Variante des „Totstellreflexes“ verbunden mit „Täterintrojekten“, bringen Menschen dazu, misshandelnde Systeme immer und immer wieder aufrechtzuerhalten und aufzusuchen. Hier liegt ein posttraumatisch gestörtes Verarbeitungs- und Handlungsmuster vor. Gewalt in Liebesbeziehungen, Gewalt in der Familie, die sogenannte „häusliche Gewalt“ produziert Traumata. Hier ist Hilfe nötig, Hilfe zur Befreiung!

Die erste Maßnahme lautet: Kein Täterkontakt mehr.

Die Psychotraumatologie und die mit ihr verbundene Traumatherapie hat hier eine klare Position. Sie hält fest:

Das Leben ist in der Tat krumm und schief und undicht wie ein Sieb. Probleme gibt es überall. Jeder Mensch erlebt schwierige, krisenhafte Situationen. Ein Problem oder eine Krise ist aber noch lange kein Trauma! Probleme wollen Projekte werden. Und Krisen sind Chancen zum Lernen und Wachsen. Dazu wurden ja in diesem Buch schon einige Anmerkungen gemacht.

Zugleich muss ein Trauma, objektiv gesehen, keine sichtbare Katastrophe sein. Das innere, persönliche bzw. subjektive Erlebnis ist ausschlaggebend für das Entstehen eines Traumas, sofern eine ganz bestimmte Struktur des Ereignisses vorliegt. Diese Struktur wird mit dem Bild der „traumatischen Zange“ treffend beschrieben. Der Begriff stammt von der Traumatherapeutin Michaela Huber, deren beide Bände zu Trauma, Traumafolgen und Traumabehandlung sehr zu empfehlen sind. Sie schreibt kundig, mutig und empathisch. Sie blickt auch mit Liebe in den Abgrund, ohne selbst dort hineinzufallen.  

Ein Trauma entsteht, wenn folgende Ereignisse auf bestimmte Strukturen treffen:

Ein objektiv oder subjektiv schlimmes Ereignis findet statt, das die äußere oder innere Existenz eines Menschen bedroht. Das kann natürlich Todesgefahr oder – drohung sein, extremer Schmerz, Ekel, Beschämung oder der Verlust der Identität. Identität geht zum Beispiel dann verloren, wenn Menschen gezwungen werden, entgegen ihren eigenen Moral- oder Glaubensvorstellungen zu handeln. Identitätsverlust kann auch bei Flucht und Vertreibung entstehen, weil Heimat Identität schafft.

In solchen Situationen reagiert jeder (!) Mensch gleichsam reflexhaft, indem erstens sein Bindungswunsch und –verhalten umfassend angesprochen und belebt wird. Die Psychotraumatologie spricht in diesem Zusammenhang von der „Aktivierung des Bindungssystems“. Niemand will in solchen Situationen allein sein. Mama, Papa, Freunde, Gott, Engel und Partner werden gesucht. Dies ist eine ganz natürliche, sofort einsetzende bei allen Menschen eintretende Reaktion. Sie läuft automatisch.

Ganz automatisch und sofort starten ebenso alle Reaktionen im Körper, die Energie bereitstellen. Dies geschieht mit großer Wucht. Energie wird gebraucht für die bei schlimmen Ereignissen zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen: Kampf, Flucht oder Organisation von Hilfe. In solchen Situationen wachsen Menschen oft enorme Kräfte zu, die im Normalfall niemals zur Verfügung stünden. Das ist die Stunde der Helden. Sie wird u.a. befeuert durch einen blitzschnell in die Blutbahn einschießenden Cocktail von körpereigenen Energieträgern und Drogen.

Höchst problematisch wird es allerdings, wenn niemand da ist, der tröstet, hilft, Bindung repräsentiert. Auch die Abwesenheit von seelischen Gestimmtheiten wie Glaube, Vertrauen, Hoffnung, Sinn oder ein universales Verantwortungsgefühl, das Menschen in ein größeres Ganzes integrieren, können den Wunsch nach Bindung frustrieren. Der Super-Gau der Gewalterfahrung ist es, wenn genau die Menschen, die das Bindungssystem repräsentieren, zugleich die Quelle der Gewalt und der Grund der Bedrohung sind. Von daher ist gerade die sogenannte häusliche Gewalt oder sexualisierte Gewalt an Kindern in Familienbeziehungen mit das Schlimmste, was passieren kann. Auch Vernachlässigung ist für Kinder eine Form von Gewalt, weil sie absolut auf Fürsorge angewiesen sind.

Wenn dann zugleich keine Möglichkeit zur Flucht oder zum Kampf besteht, weil der Gegner übermächtig, das Opfer zu klein, zu jung, zu schwach oder die Situation alternativlos ist, muss der Körper wieder rasch umschalten. Er könnte, ähnlich einem Motor, der in den roten Drehzahlbereich hinein aufheult aber keinen Kraftschluss zur Kupplung hat, es nicht lange aushalten, diese Energie nicht in Aktion umzusetzen. So wechselt er in den sogenannten „Totstellreflex“ und erlahmt, wird passiv, manchmal ohnmächtig. Außerdem erhöht das Sich-Ergeben die Wahrscheinlichkeit, eine bedrohliche Situation zu überleben. Dieses Reaktionsschema ist seit Urzeiten eingespielt und genetisch Menschen und Säugetieren einprogrammiert.

Mit spirituellen Worten ausgedrückt: Das hat Gott in seiner Schöpfung so vorgesehen. Und um weiter in einer religiösen Sprache zu bleiben: Es ist dann auch Gnade, dass in diesem „Totstellreflex“ weiter Reaktionen in unserem Bewusstsein ganz automatisch ablaufen: Menschen dissozieren und spalten sich selbst von den furchtbaren Sinneseindrücken automatisch ab. Sie spüren es dann nicht mehr so sehr, was da passiert. Es kommt auch zu einem „gnädigen Vergessen“, einer „Amnesie“. Wir erinnern uns nicht mehr richtig an das, was da geschieht und geschah. Wir werden umfassend in Watte eingepackt und können auf diese Weise das Unerträgliche ertragen, das absolut Schlimme vergessen.

Leider verschwinden nach einem furchtbaren Ereignis die Traumareaktionen nicht immer. Der Totstellreflex kann bleiben, ebenso die Dissoziationen und Amnesien. Oft genug geschieht dies auch unbemerkt und unbewusst. Parallel dazu kann das Alarmsystem immer wieder bei Schlüsselreizen anspringen („Trigger“) und die Alarmreaktion oder den unbedingten Wunsch nach Anschluss auslösen. Alles ist in ungeordneter Weise möglich. Auf diese Weise bahnt sich das an, was die moderne Psychotraumatologie ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“ nennt: Eine an sich sinnvolle Traumareaktion, die zur „richtigen Zeit“ sinnvoll und schützend ist, startet ungewollt zum falschen Zeitpunkt und führt zu unangemessenem Verhalten, weil unser Bewusstsein Alarm schlägt. Das Alarmsystem unseres Körpers und unseres Bewusstseins reagiert aufgrund eines einzelnen Sinneseindrucks, der zufällig und losgelöst aus dem vergangenen Ereignis-Zusammenhang jederzeit auftauchen kann. Zugleich läuft dann das eingespielte Verhalten ab. Von außen betrachtet, sieht es aus wie ein (Wiederholungs)Zwang, wenn Menschen sich der Gewalt ergeben. Sie sind dann immer noch oder immer wieder imTotstellreflex.

Gewalt und Sexualität liegen manchmal nahe beieinander. Das kann, muss aber nicht immer, gut sein.

Befriedigende Sexualität findet unter gleichberechtigten, erwachsenen, mündigen Menschen statt. Gewaltspiele, Dominanzverhalten oder Unterwürfigkeit können sexuell von beiden Seiten als lustvoll und gut erlebt werden, wenn es vorher und prinzipiell eine freie Vereinbarung darüber gibt. Die Rollenverteilungen müssen dabei ebenso auf Gegenseitigkeit beruhen können. Wo dies nicht gegeben ist, ist von Vergewaltigungen in der Ehe auszugehen. Vergewaltigungen sind traumatisierend und strafbar, egal wo und unter welchen Umständen sie stattfinden. Klare Ansage.

Asymmetrische Sexualität, insbesondere zwischen Erwachsenen und Kindern ist immer traumatisierend und eine Straftat. Auch hier: Klare Ansage.

Asymmetrische Sexualität tritt häufiger als anderswo in geschlossenen Systemen ohne transparente Kommunikation und Kontrolle auf. Klöster, Gefängnisse, Sekten und religiöse Sondergruppen, Internate und Vereine sind mitunter solche „hermetische“ Systeme. Familien können unter Umständen auch zu solchen geschlossenen Strukturen gezählt werden.

Bordelle sind oft Orte der Traumatisierung, weil hier strukturelle Asymmetrien durch Zuhälterei und Menschenhandel vorherrschend sind.

Transparenz ist überall wichtig und hat eine ethische Würde.

Fazit: Wenn Menschen innerhalb ihres Bezugssystems Gewalt erleben – und Partnerschaften und Familien sind elementare Bezugssysteme - brauchen sie Hilfe zum Ausstieg. Trennung und Scheidung ist hier auch im Sinne des Evangeliums, der guten (!) Botschaft der Gnade Gottes, geboten.

Gewaltverhältnisse will Gott auseinanderführen. Ohne Ausnahme!

Menschen sollen solche Beziehungen nicht zusammenhalten. Mut zu klaren Positionen!

Bei Gewalt- und Abhängigkeitsstrukturen ist Ausstiegshilfe angesagt.

Ob in Fällen häuslicher Gewalt Tätertherapie gelingen kann, ist noch offen. Auf jeden Fall ist die Therapie von Tätern mit das schwerste, was es im therapeutischen Betätigungsfeld gibt. Erfolge sind meines Wissens dabei nicht sehr häufig zu verzeichnen. Die Psychotraumatologie ist hier noch am Lernen.

Vielleicht kann sie manches von der christlichen Hamartologie, der Lehre von der Sünde, in Verbindung mit seelsorgerlichen Einsichten lernen. Im christlichen Glauben gibt es eine lange Tradition der sogenannten „pessimistischen Anthropologie“. Sie hilft Realitätsnähe und konkrete Hoffnung durch die Besinnung auf die Kraft der Gnade zu kombinieren.

Sehr ernst zu nehmen ist auf jeden Fall die Beobachtung, dass Gewalterfahrungen oft „vererbt“ werden und so „trans-generationale“ Traumatisierungen entstehen.

Aus posttraumatischen Verstrickungen sich zu befreien, ist eine der anspruchsvollsten Lernaufgaben, die Menschen bewältigen. Ihnen gehört mein ganzer Respekt. Hier geht es um Individuationsprozesse der elementarsten Form. Menschen sind auf dem Weg, das zu werden, was sie nach Gottes liebendem Schöpferwillen schon von Anfang an sind: Freie, geliebte, wertvolle Ebenbilder Gottes, die trotz aller Verwundungen zu einem Leben in Glück und Liebe bestimmt sind.

 

Bedrohungen

der Liebe trotz der errungenen Freiheit

Es könnte alles so schön sein …

Zur Wirklichkeit und zum erwachsenen, illusionsfreien Wahrnehmen derselben, gehören auch die Bedrohungen. Nicht selten leiden Menschen gerade darunter, dass ihre Gebete erhört werden und ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Dann sind sie mit sich selbst konfrontiert. Das ist nicht immer leicht. „Lieben im Reich der Freiheit“ ist manchmal bedroht durch die Befreiten selbst.

Die Bedrohungen werden hier benannt. Hoffentlich tritt dann der „Rumpelstilzchen-Effekt“ ein, so dass sie kleiner und machtlos werden:

Bedrohung 1: Das „blame-game“

Es ist schwierig. Zugegeben. Wir haben keine gelingenden Vorbilder, wie wir das leben können, wonach wir uns sehnen: Liebe und Freiheit in Verbindung mit Stabilität, Treue und Geborgenheit. Wir müssen das noch lernen. Doch wir sind da auch schon dabei. Es wird uns gelingen. Doch das Lernen kostet Kraft, verunsichert, braucht einen langen Atem und bringt so manche Misserfolgserlebnisse mit sich.

Beim Umgang mit Niederlagen und Misserfolgen zeigt sich, wie erwachsen und reif wir sind – oder eben auch nicht.

Ein unreifer Umgang mit Niederlagen und Misserfolgen ist das allseits bekannte und beliebte „blame-game“. Die Regel ist ganz einfach: Schuld ist immer der oder die andere.

Diese Regel gilt es selbst zu glauben und andere glauben zu machen. Alles andere ergibt sich daraus: Rosenkriege, erbitterte Unterhaltskämpfe oder schäbige Unterhaltsverweigerungen, Missbrauch der Kinder als Kanonenfutter im Beziehungsstreit, Rufmord und die Geiselnahme in Freundeskreisen.

Die Lösung kann hier nur sein: Noch einmal nachdenken und nacharbeiten, was Vergebung und Versöhnung bedeuten unter der Maßgabe der Ehrlichkeit zu sich selbst und anderen gegenüber.

Bedrohung 2: Die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse

Dass das wirtschaftliche Denken sich in allen Lebensbereichen als alternativlos darstellt, beschleunigt in unserer „Transparenzgesellschaft“ (Byung-Chul Han) alle kommunikativen und organisatorischen Prozesse bis zur Erschöpfung. Aber der Mensch braucht Achtsamkeit für die Liebe, die Kinder und die seelische Gesundheit.

Ich lebe und arbeite im Kleinwalsertal:

-         Wunderbare Landschaft,

-         hoher Freizeitwert,

-         hohe soziale Aufmerksamkeit durch Politik und hochgradig ehrenamtlich organisiertes Gemeinwesen,

-         sportliche, musikalische, kreative und kommunikative Menschen, die sich in sehr vielen Vereinen organisieren,

-         gute finanzielle Ausstattung kommunaler Strukturen,

-         sehr geringe Arbeitslosenquote,

-         intakte kulturelle Identität,

-         kirchlicher Einfluss durch einen traditionellen Katholizismus.

Was will man mehr? Es könnte auch in Beziehungsdingen wunderbar sein. Ist es auch oft! Doch erstaunlich ist es, dass Scheidungen hier „im Tal“ offenbar ebenso häufig vorkommen wie in Großstädten. Dies betrifft ebenso die Trennungen von nicht verheirateten Paaren. Warum ähneln sich in Beziehungsdingen die Erfahrungen so sehr, obwohl die Lebenswelten so unterschiedlich sind? Gleich ist aber in Stadt, Land und auf den Bergen der ökonomische Beschleunigungsdruck auf den Menschen. Darum gibt es auch im Kleinwalsertal kaum eine stabile Sabbatkultur. Darunter leiden die Einheimischen und demontieren die heiligen freien Zeiten doch selbst.

Zugleich ist es auf dem Hintergrund der Erwartung an Ehe und Partnerschaft, dem emotionalen, biografischen, erotischen und spirituellen Energieniveau, das hier im Spiel ist, relativ unerheblich, ob 30 oder 40, mancherorts auch bis zu 50% aller Ehen geschieden werden. Interessant ist allerdings, dass die durchschnittliche Ehedauer in den vergangenen Jahren statistisch gewachsen ist. Es könnte daran liegen, dass die Ausdauer-Ehen letztlich die sind, die übrig bleiben. Es kann natürlich mit der zunehmenden Lebenserwartung zu tun haben. Ob hier in dieser Gruppe ein wichtiges und signifikantes kulturelles Lernen stattgefunden hat, wie Individuation und Treue in einer Partnerschaft gut zusammen spielen kann, wäre einer genaueren Untersuchung wert. Es kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass hier Versöhnungskompetenz, Humor und eine gute Wertschätzungskultur in der Partnerschaft eine wichtige Rolle spielen. 

Dass aber dennoch viele Partnerschaften beendet werden trotz günstiger Rahmenbedingungen und trotz der Bereitschaft, auch Lernerfahrungen zu machen, hängt ganz wesentlich von den ökonomischen Rahmenbedingungen für Ehe, Familie, Partnerschaft und Kinder zusammen.

In den städtischen, industriellen und post-industriellen Lebenswelten spielt schlichtweg die allseits geforderte Mobilität die Rolle eines erheblichen Stressfaktors. Wer aus beruflichen Gründen flexibel sein oder häufig umziehen muss, findet keine stabilen Zeiten und Orte für die Beziehungspflege für Partner, Partnerin und Kinder. Keine Stabilität des Ortes und der Zeiten lässt aufmerksame und wertschätzende Konzentration auf eine Sache, eine Person oder eine gemeinsame Unternehmung immer seltener und schwieriger werden. Dies erzeugt gerade bei Kindern Unsicherheit und Angst. Das vielzitierte Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom (was für ein Wort!) ist im Grunde keine Diagnose der Kinder, sondern eine für die Bezugspersonen von Kindern. Die haben keine Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Augenkontakt und echte Einfühlung!

Und was bei Kindern sich als ADS oder ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätssyndrom, wir hatten das Wort schon, s.o.) entfaltet, wirkt sich bei Erwachsenen als zunehmende Unfähigkeit zur achtsamen Beziehungsgestaltung aus. Auf diesem Hintergrund entstehen Frustrationen der Liebe - bis das Guthaben auf dem Beziehungskonto aufgebraucht ist. Und Aufmerksamkeit für ein reifes, erwachsenes kulturelles Lernen in Liebes- und Individuationsangelegenheiten ist dann erst recht nicht vorhanden. Von daher ist es dann schon verwunderlich, wenn Paare überhaupt zusammenbleiben in den Phasen des größten Stresses zwischen 25 und 45.  

Die Trennungsziffern fordern uns heraus, die Frage zu beantworten: Wie wollen wir überhaupt leben? Wie wollen wir arbeiten? Wann ist genug gearbeitet, verdient, Erfolg erreicht? Welche Rolle spielt das Geld? Welche Sachzwänge sind real, welche eingebildet? Wer verdient an wem?

In dieses Fragen mischt sich dann, gefragt oder ungefragt, Jesus, der Prediger und Liebeskünstler aus Galiläa, ein und kommentiert: „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden nimmt an seinem Leben?“ (Markus-Evangelium, Kapitel 8, Vers 36). Hinter ihm steht dann auch noch die jüdische und christliche Tradition der Sabbat-Kultur, die in dem alttestamentlichen Gebot aus dem zweiten Buch Mose im 20. Kapitel kategorisch und fordernd festhält: „Du sollst den Feiertag heiligen.“ Das Nichtstun ist demnach heilig! Heilige Unterbrechung! Und: Auf die gemeinsame Unterbrechung, die gemeinsame heilige Zeit kommt es an. Das galt in alttestamentlichen Zeiten übrigens für alles und alles. Das Leben war wirklich befreit von ökonomischen Zwängen – wenigstens einmal ein gemeinsamer Tag in der Woche, an dem auch gemeinsam Mahl gehalten wurde.

Die Vision wäre ein Leben, das in das kulturelle Lernen für Individuation und liebende Treue auch die Fragen nach ökonomischer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit möglichst für alle Menschen einbindet.

Der konziliare Prozess von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, den die Kirchen in ökumenischer Verbundenheit begonnen haben, trägt auch etwas für die aktuellen Beziehungsfragen Entscheidendes bei.

Diese Veröffentlichung gibt den Ball weiter. Möge das Spiel gut werden.

 

Nachwort

Es kommt auf die Lust an zum Selber-Entdecken in Sachen Liebe, Verlieben, Entlieben, Partnerschaft, Treue, Trennung und Entwicklung.

Think-it-yourself and Do-it-yourself!

Das Internet hilft, zu allen Gedanken Wichtiges und Unwichtiges zusammenzutragen. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche dabei, auf das, was Sie weiterbringt! Vergeuden Sie nicht zu viel Energie auf die Frage, ob dies oder jenes richtig oder falsch ist. Die entscheidende Kategorie ist: „hilfreich und weiterführend für mich und für andere“.

Ihnen soll nichts aufgeschwatzt werden, was so oder so sein muss und dass anderes nicht sein darf. Dieses Buch hat auf wissenschaftliche Belege und literarische Verweise meistens verzichtet. Entweder, das vorliegende Buch leuchtet ein und hilft … oder eben nicht.

Ob es hilft, entscheidet nicht die versuchte Objektivität und Wissenschaftlichkeit.

Ob es genutzt hat, entscheidet sich in Ihrem Leben. Wenn Sie mögen, können Sie eine Rückmeldung. Sie wird in die weitere Diskussion eingehen. Der Prozess des kulturellen Lernens geht ja weiter …

Dieses Buch redet von Gott, obwohl er wirklich weder sichtbar noch evident, einsehbar ist. Das Buch hat als Vorraussetzung, dass wir Gott brauchen. Er ist wichtig für das Leben und das Lieben.

Vielleicht erwarten Sie etwas von Gott. Vielleicht gab es für Sie noch keine Gelegenheit, das treffend zu formulieren.

Es könnte auch sein, dass es einen guten spirituellen Grund gibt, warum die „Kasualie Trauung“ trotz allen Tendenzen der Entkirchlichung relativ stabil ist: Menschen erhoffen sich Gottes Segen für das Gelingen des Lebens und des Liebens. Sie spüren dabei, dass beides zusammengehört.

Und das ist ja gut, von Gott etwas zu erhoffen, zu hoffen und zu erwarten, dass da etwas erfahrbar wird. Gute Erfahrungen haben etwas mit Segen zu tun.

Dass Ehen getrennt werden, heißt nicht, dass sie nicht gesegnet waren.

Gottes Segen bedeutet vielmehr, die Kraft zu bekommen, das zu werden, was man und frau eigentlich von Gottes Schöpfung her ist.

Die Schöpfung geht weiter. Unser eigentliches Sein liegt vor uns. Gottes Segen in der fortwährend sich entwickelnden Schöpfung ist stärker als unsere noch so religiös begründeten Moralvorstellungen.

Trennen heißt nicht unbedingt Scheitern.

Entwickeln heißt sich verlieben, lieben und entlieben. Liebe geschieht dabei immer unbedingt. Darum ist es zugleich paradox und genau richtig, dass die Trauformel die Worte beinhaltet „bis dass der Tod euch scheidet.“

Liebe und Freiheit, Entwicklung und Selbstfindung kann heute in den reichen Industrienationen gesucht und gelebt werden außerhalb der Notwendigkeit, gemeinsam das Überleben meistern zu müssen. Dies ist historisch eine absolute Neuigkeit seit ungefähr einer Generation.

Die Zeit hat bisher nicht ausgereicht, das Lieben unter den Bedingungen der Freiheit auch zu lernen. Wir wissen noch nicht, wie das geht, Lieben und Leben in Freiheit. Das müssen wir noch „kulturell lernen“.

Einer allein kann das nicht. Wir sind dabei. Dies ist ein großes Menschheitsprojekt, das Jesus in unser Herz gepflanzt hat mit seinem Gedanken, seinen Worten und seinem Leben. Er flüstert durch die Jahrhunderte uns zu: Liebe ist unbedingt, bedingungslos und ein Projekt der Freiheit. Das Ideal der romantischen Liebe hat dies in unserer Kultur wach gehalten.

Zugleich ist bei Trennungen zu lernen, dass Bindungen lebenswichtig sind. Kinder brauchen sie vor allem. Darum gehört zum Lernen der Liebe auch das Lernen des erwachsenen, verantwortungsvollen und reifen Trennens dazu. Rosenkriege sind gelebter Unglaube, Ausdruck der Unfähigkeit zur reifen Liebe, Manifestationen der Verantwortungslosigkeit und sprechen das kritische Urteil auch über die Liebe zuvor. Das muss und das kann sich ändern: kulturelles Lernen auch hier.

Gottes Segen ist dabei.

Der Defizitblick auf das Phänomen der Trennungen ist letztlich wenig hilfreich. Trotz alledem, was bei Trennungen natürlich schmerzhaft ist und nicht verdrängt werden soll. Es soll vielmehr getröstet werden, so dass neue Wege in eine gute Zukunft sich öffnen können.

 

Weiter gehen

„Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.“ (Martin Walser)

 

Mut

Mut tut gut. Doch woher kommen Mut und Kraft?

Auch aus gelingenden Bindungserfahrungen. Menschen brauchen Bindung.

Menschen haben Angst vor Bindungslosigkeit, aber auch vor Schuld und vor dem Tod.

Wer Angst hat, macht sich nicht auf den Weg, sondern versteinert, fällt in Todesstarre.

Leben bedeutet Befreiung, nicht nur, aber oft vor allem Befreiung von der Angst.

Wer seinen Weg der Individuation, der Berufung und letztlich der Liebe gehen will, braucht Befreiung. Dabei ist das Wort „Befreiung“ mit Bedacht gewählt. Denn Freiheit an sich gibt es nicht. Wir haben Freiheit immer nur in der Form der Befreiung. Freiheit als solche gibt es erst im Himmel.

Freiheit, wie die Liebe, wie die Individuation ist ein Prozess. Das Beste kommt noch. Die Wahrheit liegt vor uns. Unser Sein, das Sein der Welt und Gottes Sein sind im Werden.

Doch auch Veränderungen machen Angst.

Wie kommen wir da raus?

Durch Mut, Mut gegen die Angst.

Religiös gesprochen: Nicht moralische Verderbtheit, sondern Angst ist die Grundsünde des Lebens und des Menschen. Sünde ist ein „trans-moralischer“ Begriff.

Wer die Kraft und den Mut sucht, um seinen Weg der Individuation und der Liebe zu gehen, um seine je eigene Berufung zu entdecken, braucht die Befreiung von den großen Ängsten. Befreiung von Angst ist ein hoch symbolischer und zugleich praktisch höchst konsequenzenreicher Akt. Wer Angst hat, ist beherrschbar. Das Reich der Freiheit ist aber noch nicht in Gänze sichtbar. Der Schritt in die Freiheit ist also stets mit Unwägbarkeiten verbunden. Und die Angst ist auch ein legitimes Warnsignal bei Unsicherheiten. Sie hilft, genau hinzuschauen.

Das Angst-Befreiungssymbol schlechthin, das die Christenheit der Welt anzubieten hat, ist die Taufe. In der Taufe werden, besonders in den evangelischen, katholischen und orthodoxen Kirchen, die die Kindertaufe praktizieren, den Menschen Gottes Vergebung, Gottes Versöhnung, seine Gemeinschaft und das ewige Leben zugesagt. Das alles wird übereignet als reines Geschenk, das der Mensch, in der Regel der Säugling, ganz passiv ohne jede Vor- oder Gegenleistung erhält. Pure Gnade eben! Alles wirklich Wichtige, das ewige Leben, der Lebenssinn, die Versöhnung, die Gemeinschaft mit Gott, die Freiheit von Schuld und Schicksal, werden schon vorab geschenkt. Darum sind die großen, metaphysischen Ängste erledigt. Mit traditionellen Worten: Sünde, Tod und Teufel sind besiegt. Darum kann das Leben angstfrei geführt werden. Der Weg der Befreiung, der Individuation und der Berufung liegt darum wie das große, weite, verheißene Land vor uns.  

Ist dieser Weg beschritten, stellt sich gleich die nächste Aufgabe: Woher nehmen wir die Weisheit und die Geduld, neben der Individuation auch die Sozialisation zu leben? Wie kommen wir dazu, wirklich gemeinschaftsfähig zu sein? Wie versöhnt sich die Individualität des Menschen mit seiner Sozialität? Dies ist letztlich die große Überlebensfrage der Menschheit, weil wir im Moment vor lauter individuellen Bedürfnissen die Ressourcen des zerbrechlichen blauen Planeten Erde, der unsere vorläufige Heimat ist, aufbrauchen. Aber diese Heimat gehört allen. Sie ist eine Allmende der Sozietät Menschheit. Die Menschheitsfamilie will und soll als Ganzes überleben. Es wäre doch schade, wenn dieses wunderbare Projekt „blauer Planet Erde als vorläufige Heimat der Menschheit“ in den Tiefen des kalten Universums scheitern würde. Gegen die Vorboten des Scheiterns brauchen wir den Mut und die Kraft des „Großen Trotzdem“. Auch dieses wächst aus der Befreiung von der Angst.

Und eine ganz elementare Sozialität ist die Verantwortung als Eltern für die Kinder – auch unabhängig von der jeweiligen Partnerschaftsbindung. Das Große und das Kleine, die Welt und das Kind, sie gehören immer zusammen.

 

Und jetzt?

Die Wahrheit entscheidet sich im Alltag.

Natürlich ist es so. Wenn wir etwas lesen über die großen Themen wie zum Beispiel Liebe, Freiheit, Sinn und dergleichen, bearbeiten wir automatisch immer unser eigenes Leben. Gut so!

Bestandsaufnahme ist angesagt. Sie ist nicht immer angenehm, aber sie hilft.

Wo will Ihre Sehnsucht hin?

Was hindert Sie, ihr zu folgen?

Was ist Ihr Anteil an allem, was ist der Anteil der anderen oder der Strukturen?

Spielen Sie das „blame-game“? Schützen Sie sich vor eigenen Herausforderungen, indem Sie anderen den Schwarzen Peter der Schuld zuweisen?

Wofür stehen Sie in Ihrem Leben ein, wofür übernehmen Sie Verantwortung? Woran können es andere merken, dass das so ist? Ist es objektive Wirklichkeit oder subjektiver Wunsch? Was muss geschehen, damit aus Subjektivem etwas Objektives in Ihrem Leben wird?

Wenn Sie diese Fragen mit und für sich selbst geklärt haben, suchen Sie sich eine Person Ihres Vertrauens. Vielleicht eine/n geistliche/n Begleiter/in. Sie brauchen einen künstlichen Horizont, einen Anker nach Außen, vertrauenswürdige Rückmeldungen, die wertschätzend, aber nicht schmeichelnd sind.

Und dann klären Sie für sich selbst, wo Ihre Ressourcen, Ihre Kraftquellen sind. Wie können Sie diese nutzen und bei Bedarf noch erweitern?

Und dann fragen Sie sich: Führt mich Gott auseinander?

Wenn ja, dann suchen Sie die Wege, wie Sie auf der einen Seite die Trennung und auf der anderen Seite die Stabilität der Beziehung zu den Menschen, für die Sie verantwortlich sind, vereinbaren können. Und dann geht es los. Bei jedem Schritt bleiben Sie bei sich selbst. Es wird gehen. Sie werden etwas lernen, das für Sie und für andere wichtig ist.

Wenn nein, dann suchen Sie bewusst und aktiv die Wege, wie Sie Ihre Berufung und Selbstwerdung in Gottes Namen leben und wachsen lassen können in der Beziehung. Geben Sie die Frage und die Suche nach Ihrem eigentlichen Weg nie auf!

Was Sie auch tun, hüten Sie sich vor dem „blame-game“, dem Zuschieben der Schuld an andere. Ihre Leitfrage soll lauten: Was ist mein Projekt, was ist mein Anteil daran, dass ich in genau dieser Situation gelandet bin? Warum ich? Warum hier? Warum mit genau diesen Menschen?

Entdecken Sie Ihr Projekt darin … und würdigen Sie es.

Die Beziehung zu Ihrem Partner oder Partnerin ist oder war Ihnen ja wichtig. Sie hat oder hatte einen Sinn. Dieser Sinn wird einer der Schlüssel sein für den Weg in eine sinnvolle Zukunft auf neuer Ebene.

Wenn Sie sich trennen wollen und wenn es geht, schließen Sie erst eine Beziehung in Frieden ab, bevor Sie eine neue beginnen. Oft brauchen Trennungswillige eine neue Partnerschaft als Helfer und Quelle der Kraft, weil sie es sonst nicht schaffen, die Trennungsenergie aufzubringen. Manchmal brauchen Sie auch das Geld des neuen Partners oder der neuen Partnerin, manchmal die Wohnung und das neue Zuhause. Wenn möglich, verzichten Sie darauf, zumindest für die erste Zeit. Suchen Sie sich anderen „Anschluss“. Freunde sind wichtig.

Wenn möglich, vermeiden Sie es auch, in das eigene Elternhaus zurück zu gehen. Es wäre auch innerlich ein Zurück. Der Weg geht nach vorn.

Wenn Kinder da sind, lassen Sie diese dann selbst entscheiden, wie viel Nähe und wie viel Distanz zum neuen Partner oder Partnerin für Ihre Kinder richtig ist. Achten Sie in jeder Hinsicht die „Selbstwirksamkeit“ Ihrer Kinder und bieten Sie Liebe ohne Forderung nach Gegenleistung an.

Bei allem: Seien Sie klar und wahr. Die wesentlichen Dinge sind oft einfach und mit wenigen Worten zu sagen. Es gibt dabei einen gewaltigen Unterschied zwischen „banal“ und „elementar“. Das Einfache im Sinn von „elementar“ hilft weiter. Banalitäten, Gefühlskitsch und hysterische Wallungen haben nichts mit Befreiung, Individuation und Berufung zu tun. Achten Sie darauf, dass es für alle gute Wege gibt, die aufrecht gegangen werden können. Achten Sie besonders auf die Kinder. Sie können Trennungen verkraften, wenn sie mutig ehrlich und respektvoll gegangen werden. Ungeklärte Beziehungsabbrüche tun ihnen nicht gut.

Es gibt gute Wege. Es gibt einen Sinn darin. Es gibt das Lebensglück in allen Schiefheiten und Neu-Aufbrüchen. Wir sind Lernende.

Seien Sie behütet bei allem, Ihr Frank Witzel

 

Der Autor, Frank Witzel, Jahrgang 1962 hat in Erlangen und Marburg an der Lahn Theologie studiert. Er leistete in der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie Zivildienst und arbeitet als evangelisch-lutherischer Gemeindepfarrer der Bayerischen Landeskirche im österreichischen Hirschegg. Er wurde zweimal in seinem Leben geschieden, hat zwei erwachsene Kinder aus erster Ehe und lebt in fester Partnerschaft. Der ausgebildete Schwerhörigenseelsorger, NLP-Master (Synapse Stuttgart, Internat. Society of NLP), Geistlicher Begleiter (CCB Selbitz) und Traumatherapeut (wings-of-hope, zptn) ist auch zuständig für die Urlauber- und Gästeseelsorge im Kleinwalsertal.

Er liebt seine Partnerin und seine Kinder, mag seinen Beruf sehr, fährt gern Motorrad und findet die Berge großartig.

Dank: Ich danke allen, die an dem Zustandekommen dieses Buches beteiligt waren. Es sind sehr viele, u.a. Rolf Hartmann, Dagmar und Jochen Kleemann, Hans Gareis und alle, die Korrektur gelesen haben.

Über die Jahre ist es durch zahlreiche Begegnungen und Gespräche gewachsen. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt aller Beteiligten. So sollen die Inhalte dieses Buches auch weiter besprochen werden. Als Briefkasten Ihrer Redaktion kann die eMailAdresse unten dienen.

Hinweis: Dieses Buch wurde bewusst analog und auf Papier geschrieben. Die Buchform ist unseres Erachtens den Gedanken angemessen.

Es wird auf ein Copyright verzichtet. Wir wünschen den Gedanken, die im Buch (s.o.) „schwarz auf weiß“ zu Papier gebracht wurden, Verbreitung. Die digitale Fassung hier im Internet ist nicht verbindlich.

Wenn Sie mögen, können Sie mich einladen – zum Vortrag und Reden darüber. Ich bin auch gespannt, was Sie zu sagen haben.

Link: www.kleinwalsertal-evangelisch.de